Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
Kopf und kalten, tränenfeuchten Wangen zum Fluß hinunter. Plötzlich tauchte in meinem Blickfeld ein Paar Stiefel mit schiefen Absätzen auf.
Ich hob langsam die Augen. Ansehnliche Beine, ein warmes Wams, ein brauner Umhang aus Barchent, ein lächelndes Gesicht: William Stafford.
»Ihr seid nicht mit dem Hof zu Eurer Schwester aufgebrochen?« fragte er ohne ein Wort des Grußes.
»Nein«, erwiderte ich knapp.
Er musterte mein zu Boden geneigtes Gesicht näher.
»Geht es Euren Kindern gut?«
»Ja«, erwiderte ich.
»Was ist es dann?«
»Ich habe etwas Schlimmes gemacht«, antwortete ich und kniff die Augen gegen das gleißende Licht des Wintersonnenscheins zusammen.
Er wartete.
»Ich habe ein Geheimnis der Königin herausgefunden und meinem Onkel verraten.«
»Hat er das auch schlimm gefunden?«
Ich lachte kurz auf. »O nein. Seiner Meinung nach habe ich ihm alle Ehre gemacht.«
»Das geheime Schreiben der Herzogin«, erriet er sofort. »Der ganze Palast spricht davon. Man hat sie vom Hof verbannt. Doch niemand konnte sich erklären, wie es herausgekommen ist.«
|368| »Ich …«, begann ich verlegen.
»Von mir wird es niemand erfahren.« Mit vertrauter Geste nahm er meine kalte Hand, hakte mich unter und führte mich zu einem Spaziergang an den Fluß. Die Sonne schien uns hell ins Gesicht, und meine Hand wurde allmählich wärmer.
»Was hättet Ihr getan?« fragte ich. »Da Ihr Euch nur nach Euren eigenen Regeln richtet und so stolz darauf seid, niemandem verpflichtet zu sein.«
Stafford strahlte mich überaus erfreut von der Seite an. »Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, daß Ihr Euch noch an unsere Gespräche erinnert.«
»Es bedeutet nichts«, erwiderte ich, leicht verwirrt. »Gar nichts.«
»Natürlich nicht.« Er überlegte einen Augenblick. »Ich glaube, ich hätte genauso gehandelt wie Ihr. Wenn ihr Neffe eine Invasion geplant hätte, dann wäre es wirklich lebenswichtig gewesen, davon zu erfahren.«
Wir blieben bei der Begrenzungsmauer des Parks stehen. »Wollen wir nicht das Tor öffnen und weitergehen?« fragte er. »Wir könnten ins Dorf gehen, einen Krug Ale trinken und geröstete Kastanien essen.«
»Nein. Ich muß heute abend zum Essen hier sein, obwohl mich die Königin bis Ostern beurlaubt hat.«
Er begleitete mich zurück, redete nichts, hielt aber meine Hand warm an seine Seite geschmiegt. An der Tür zum Palast blieb er stehen. »Ich verlasse Euch hier«, sagte er. »Ich war gerade auf dem Weg zum Stall, als ich Euch bemerkte. Meine Stute lahmt, und ich möchte sicher sein, daß ihr Huf ordentlich behandelt wird.«
»Ich weiß wirklich nicht, warum Ihr Euch überhaupt von mir habt abhalten lassen«, sagte ich mit leicht herausforderndem Ton in der Stimme.
Er schaute mir in die Augen, und ich spürte, wie mein Atem ein wenig schneller ging. »Oh, ich glaube, das wißt Ihr sehr wohl«, erwiderte er langsam. »Ich glaube, Ihr wißt sehr wohl, warum ich meinen Weg unterbrochen habe, um mit Euch zu reden.«
|369| »Mr. Stafford …«, hob ich an.
»Mir ist der Geruch der Salbe, die sie auf den Huf schmieren, so zuwider«, fuhr er rasch dazwischen, verneigte sich und war verschwunden, ehe ich lachen, protestieren oder mir eingestehen konnte, daß er mich tatsächlich überlistet hatte, mit ihm herumzuschäkern.
|370| Frühling 1531
Schon bald nach dem Tod des Kardinals bekam die Kirche zu spüren, daß sie nicht nur einen ihrer größten Nutznießer verloren hatte, sondern auch ihren mächtigsten Beschützer. Henry erlegte der Kirche ungeheure Steuern auf, plünderte ihre Schatzämter und machte dem Klerus auf diese Weise klar, daß der Papst zwar ihr geistliches Oberhaupt, ihr irdischer Herr jedoch sehr viel näher und wesentlich mächtiger war.
Nicht einmal der König hätte derlei ohne Hilfe schaffen können. Die klügsten Köpfe seiner Zeit unterstützten Henrys Angriff auf die Kirche, jene Männer, an deren Bücher Anne glaubte, jene Männer, die verlangten, die Kirche müsse zu ihrer früheren Schlichtheit und Reinheit zurückkehren. Und die einfachen Menschen in England, die in der Theologie nicht bewandert waren, waren ebenfalls nicht bereit, für ihre Priester oder Klöster gegen Henry Partei zu ergreifen, wenn dieser vom Recht des englischen Volkes auf eine englische Kirche sprach. Die römische Kirche schien eine Kirche ausschließlich für Rom zu sein, eine ausländische Einrichtung, die im Augenblick von einem ausländischen Monarchen beherrscht wurde.
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