Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
lag, bereits eine Totenbahre. George schritt voraus, William und die anderen fröhlich buntgekleideten Turniergäste folgten in furchtsamem Schweigen.
Anne stöhnte auf und glitt zu Boden. Ihr Gewand bauschte sich um sie. Eine der Zofen fing sie auf, und wir trugen sie in ihr Schlafgemach, legten sie aufs Bett und schickten einen Pagen nach Würzwein und einem Arzt. Ich schnürte ihr das Mieder auf und tastete den Bauch ab, flüsterte ein leises Gebet, daß das Kind in ihrem Leib gesund und lebendig bleiben möge.
Meine Mutter kam mit dem Wein. Sie warf nur einen kurzen Blick auf Anne, die mit bleichem Gesicht versuchte, sich aufrecht hinzusetzen.
»Bleib liegen«, herrschte sie sie an. »Willst du alles verderben?«
»Henry?« fragte Anne.
»Ist bei Bewußtsein«, log meine Mutter. »Es war ein schlimmer Sturz, aber es geht ihm gut.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich mein Onkel bekreuzigte und ein Gebet murmelte. Noch nie hatte ich gesehen, daß dieser gestrenge Mann irgend jemanden um Hilfe bat. Meine Tochter Catherine schaute vorbei und wurde sogleich damit beauftragt, Anne den Weinbecher an die Lippen zu halten.
»Jetzt kommt und schreibt den Brief zu Ende«, sagte mein Onkel halblaut. »Das ist das allerwichtigste.«
Ich schaute kurz zu Anne, ging dann ins Audienzgemach zurück und nahm die Feder wieder zur Hand. Wir schrieben drei Briefe, einen an die Stadt London, einen an die Provinzen im Norden und einen ans Parlament, und ich unterzeichnete alle drei als Anne, Königin von England, während der Arzt und |591| zwei Apotheker auftauchten. Ich forderte wohl das Schicksal heraus, indem ich mich als Königin von England ausgab.
Die Tür ging auf. Völlig benommen taumelte George ins Zimmer. »Wie geht es Anne?« fragte er.
»So leidlich«, erwiderte ich. »Und dem König?«
»Er phantasiert«, flüsterte er. »Er weiß nicht, wo er ist. Er fragt nach Katherine.«
»Katherine?« fuhr mein Onkel dazwischen. »Er fragt nach ihr?«
»Er weiß nicht, wo er ist. Er wähnt sich auf einem Turnier, bei dem er vor vielen Jahren gestürzt ist.«
»Geht beide zu ihm«, befahl mir mein Onkel. »Und haltet ihn ruhig. Er darf ihren Namen nicht erwähnen. Niemand darf hören, wie er auf dem Totenbett ihren Namen ruft. Wenn das herauskommt, wird Elizabeth sofort zugunsten von Mary entthront.«
George nickte und führte mich in den Großen Saal. Man hatte den König nicht die Treppe hinaufgetragen, sondern die Bretter über zwei große Tische gelegt. Henry wälzte sich rastlos hin und her. George führte mich durch den Kreis besorgter Männer, und der König erblickte mich. Langsam verengten sich seine blauen Augen, als er mein Gesicht erkannte.
»Ich bin hingefallen, Mary.« Seine Stimme war weinerlich wie die eines kleinen Jungen.
»Armer Bub.« Ich zog ihn fest an mich, nahm seine Hand und preßte sie an mein Herz. »Tut es weh?«
»Überall«, antwortete er und schloß die Augen.
Der Arzt erschien hinter mir und flüsterte mir zu: »Fragt ihn, ob er seine Füße und Finger bewegen kann.«
»Könnt Ihr Eure Füße bewegen, Henry?«
Wir sahen alle, wie seine Stiefel zuckten. »Ja.«
»Und all Eure Finger?«
Ich spürte, wie er meine Hand noch fester umklammerte.
»Ja.«
»Habt Ihr Schmerzen im Leib, wenn Ihr Euch bewegt?«
Er schüttelte den Kopf. »Mir tut alles weh, von Kopf bis Fuß.«
|592| Ich blickte den Arzt an.
»Wir sollten Blutegel ansetzen.«
»Wenn Ihr nicht einmal wißt, wo er verletzt ist?«
»Er könnte innere Blutungen haben.«
»Laßt mich schlafen«, sagte Henry leise. »Bleibt bei mir, Mary.«
Ich schaute auf ihn hinab. Er sah so viel jünger aus, wie er da ganz still und benommen lag. Ich hätte beinahe glauben mögen, wieder den jungen Prinzen vor mir zu haben, den ich so angebetet hatte. Im Liegen wirkten seine fetten Backen schmaler, und seine schöne Stirn war unverändert. Nur dieser Mann konnte das Land zusammenhalten. Ohne ihn wären wir alle ruiniert: nicht nur die Howards, nicht nur wir Boleyns, sondern jeder Mann, jede Frau und jedes Kind landein, landaus. Niemand außer ihm konnte die Lords hindern, nach der Krone zu schnappen. Vier Erben hatten gute Gründe für einen Anspruch auf den Thron: Prinzessin Mary, meine Nichte Elizabeth, mein Sohn Henry und der Bankert Henry Fitzroy. Die Kirche war bereits in Aufruhr, der spanische Kaiser oder der französische König würden vom Papst den Auftrag bekommen, sich nach England aufzumachen und Recht und Ordnung
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