Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
wiederherzustellen, und wir würden sie nie mehr loswerden.
»Würde Euch jetzt nicht ein wenig Schlaf guttun?« fragte ich.
Er schlug die blauen Augen auf und lächelte mich an. »O ja«, sagte er mit schwacher Stimme.
»Wollt Ihr stilliegen, während wir Euch die Treppe hinauftragen?«
Er nickte. »Haltet mir die Hand.«
Ich wandte mich zum Arzt. »Sollten wir das tun? Ihn einfach ruhen lassen?«
Der Arzt schaute völlig entsetzt drein. Die Zukunft Englands lag in seiner Hand. »Ich glaube schon«, sagte er unsicher.
»Nun, hier kann er nicht schlafen«, bemerkte ich.
George wählte ein halbes Dutzend starker Männer aus und hieß sie sich um die Tragbahre stellen. »Du hältst seine Hand fest, Mary. Und ihr anderen, ihr hebt ihn auf mein Kommando |593| hoch und geht zur Treppe. Auf dem Treppenabsatz legen wir eine Pause ein, und dann sehen wir weiter. Eins, zwei, drei, anheben!«
Mit großer Anstrengung hoben sie ihn hoch und hielten die Bretter gerade. Ich ging nebenher, die Hand des Königs fest in der meinen. Die Träger bewegten sich mit kleinen schlurfenden Schritten vorwärts; so schafften wir es bis in die Gemächer des Königs. Jemand lief voraus und stieß die Türen zu seinem Audienzzimmer und dahinter zu seinem Privatgemach auf. Als sie den König sehr unsanft auf dem Bett absetzten, stöhnte er auf vor Schmerz. Nun mußten wir ihn noch von den Brettern heruntermanövrieren. Es blieb den Männern nichts anderes übrig, als auf das Bett zu klettern, den König an den Schultern und den Füßen anzuheben, während einige andere die Bahre unter ihm hervorzogen.
Ich sah das Gesicht des Arztes, als er diese unsanfte Behandlung beobachtete. Ich begriff, daß wir den König, wenn er wirklich innere Blutungen hatte, wahrscheinlich gerade umgebracht hatten. Er stöhnte vor Schmerzen. Ich fürchtete kurz, es wäre ein Todesröcheln. Doch dann schlug er die Augen auf und schaute mich an.
»Katherine?« fragte er.
Ringsum tuschelten die Männer in abergläubischem Entsetzen. Ich blickte zu George. »Raus«, befahl er kurz. »Alle raus.«
Sir Francis Weston trat zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. George hörte aufmerksam zu und berührte leicht Sir Francis’ Arm, um ihm zu danken.
»Die Königin hat Anweisung gegeben, daß Seine Majestät nur von seinen Ärzten, seiner lieben Schwägerin Mary und mir betreut werden soll«, verkündete George. »Alle anderen können draußen warten.«
Zögernd verließen sie den Raum. Draußen hörte ich meinen Onkel sehr laut sagen, während der König verhindert sei, werde die Königin als Regentin für Prinzessin Elizabeth eingesetzt, und man müsse wohl niemanden daran erinnern, daß sie alle Prinzessin Elizabeth, Henrys einziger legitimer Erbin, den Treueschwur geleistet hatten.
|594| »Katherine?« fragte Henry noch einmal und blickte zu mir auf.
»Nein, ich bin es, Mary«, sagte ich sanft. »Früher Mary Boleyn. Jetzt Mary Stafford.«
Zitternd nahm er meine Hand und führte sie an die Lippen. »Meine Liebste«, flüsterte er, und wir vermochten beide nicht zu sagen, wie viele Liebste er damit ansprach: die Königin, die ihn bis auf ihr Totenbett geliebt hatte, die neue Königin, die krank vor Angst in ihrem Gemach saß, oder mich, das Mädchen, das er einmal geliebt hatte.
»Möchtet Ihr jetzt schlafen?« fragte ich besorgt.
Sein Blick war verschleiert, wie trunken. »Schlafen. Ja«, murmelte er.
»Ich bleibe bei Euch sitzen.« George zog mir einen Stuhl heran, und ich setzte mich, ohne die Hand des Königs loszulassen.
»Gebe Gott, daß er wieder aufwacht«, sagte George, als er das wachsbleiche Antlitz und die flatternden Lider betrachtete.
»Amen«, antwortete ich. »Amen.«
Bis zur Mitte des Nachmittags saßen wir bei ihm, die Ärzte am Fußende, George und ich am Kopfende, während meine Mutter und mein Vater ständig ins Zimmer kamen und mein Onkel irgendwo Ränke schmiedete.
Henry schwitzte, und einer der Ärzte zog ihm die Bettdecke weg und schrak zusammen. Auf seiner stämmigen Wade, wo er sich vor langer Zeit einmal bei einem Turnier verletzt hatte, war ein häßlicher dunkler Fleck aus Blut und Eiter zu sehen. Die Wunde war nie richtig verheilt gewesen und nun wohl wieder aufgebrochen.
»Wir müssen Blutegel ansetzen«, sagte der Mann, »damit sie das Gift aus dieser Wunde saugen.«
»Ich kann das nicht mit ansehen«, gestand ich George mit zitternder Stimme.
»Dann geh ans Fenster! Fall bloß nicht in Ohnmacht«, erwiderte er
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