Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
Rüstzeug einer Hure vermittelt, und nun machte er ihr das zum Vorwurf. Ich schaute George in die Augen und wußte, daß ihm die gleichen Erinnerungen gekommen waren.
»Gott steh uns bei, Jane«, erwiderte er matt. »Wißt Ihr denn nicht, daß der König im Zorn alles mögliche sagt? Nichts hat sie gemacht. Ein Kuß, eine zärtliche Berührung. Was Mann und Frau in den ersten schönen Tagen der Liebe eben tun.« Er hielt inne und berichtigte sich. »Wir natürlich nicht. Ihr und ich, wir nicht. Aber eigentlich seid Ihr ja auch keine Frau, die sonderlich zum Küssen einlädt, nicht?«
|607| Sie wandte sich einen Augenblick ab, als hätte er sie geschlagen. »Aber natürlich«, erwiderte sie schließlich so leise wie eine Schlange im Moos. »
Ihr
küßt ohnehin nicht gern Frauen, außer wenn sie Eure Schwestern sind.«
Ich ließ Anne eine halbe Stunde allein, klopfte dann bei ihr an und schlüpfte leise ins Zimmer. Ich schloß die Tür vor den neugierigen Gesichtern der Hofdamen und sah mich nach Anne um. Im Zimmer herrschte die Dunkelheit eines frühen Winternachmittags. Sie hatte die Kerzen noch nicht angezündet, nur der Schein des Feuers flackerte an den Wänden und der Decke. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, und zunächst dachte ich, sie sei eingeschlafen. Aber plötzlich fuhr sie auf, und ich sah ihr bleiches Gesicht und ihre dunklen Augen.
»Mein Gott, wie wütend er war.« Ihre Stimme war vom Weinen ganz heiser.
»Du hast ihn sehr erzürnt, Anne.«
»Was sollte ich denn machen? Wenn er mich vor dem gesamten Hofstaat beleidigt?«
»Dich blind und taub stellen«, antwortete ich. »In die andere Richtung schauen. So hat Königin Katherine das immer gemacht.«
»Königin Katherine hat verloren. Sie hat in die andere Richtung geschaut, und ich habe ihn ihr weggeschnappt. Was soll ich bloß machen, um ihn zu halten?«
Wir sagten beide nichts. Es gab nur eine Antwort. Es gab immer nur eine Antwort, und es war stets dieselbe.
»Mir war regelrecht übel vor Wut«, sagte sie. »Ich hatte das Gefühl, ich müßte mir die Seele aus dem Leibe kotzen.«
»Du mußt ruhig bleiben.«
»Wie kann ich ruhig bleiben, wenn Jane Seymour überall ist, wo ich auftauche?«
Ich ging zum Bett und nahm ihr die Haube vom Kopf. »Jetzt machen wir dich fürs Abendessen zurecht«, sagte ich. »Geh zum Abendessen und sieh wunderschön aus, dann ist alles bald vorbei und vergessen.«
|608| »Nein«, antwortete sie bitter. »Ich kann das nicht vergessen.«
»Dann tu wenigstens so«, riet ich ihr. »Sonst erinnern sich alle daran, daß er dich beschimpft hat. Tu besser so, als wäre es nie geschehen, als hättest du es nie gehört.«
»Er hat mich Hure genannt«, giftete sie. »Das vergißt bestimmt niemand.«
»Verglichen mit Jane sind wir alle Huren«, sagte ich fröhlich. »Na und? Du bist jetzt seine Frau, oder nicht? Mit einem ehelichen Kind unter dem Herzen. Er kann dich im Zorn nennen, wie er will, du kannst ihn zurückgewinnen, wenn er sich beruhigt hat. Hol ihn dir heute nacht zurück, Anne.«
Ich rief nach ihrer Zofe, und Anne wählte ihr Gewand aus. Sie entschied sich für ein Kleid in Silber und Weiß, als wolle sie ihre Reinheit unterstreichen. Das Mieder war mit Perlen und Diamanten bestickt, der Saum des silbrig glänzenden Rocks mit echtem Silberfaden durchwirkt. Nachdem sie sich die Haube auf das schwarze Haar gesetzt hatte, war sie eine Königin vom Scheitel bis zur Sohle, eine Schneekönigin, eine Königin von makelloser Schönheit.
»Sehr gut!« lobte ich sie.
Anne warf mir ein müdes Lächeln zu. »Ich muß ewig spielen«, sagte sie. »Diese ganzen Anstrengungen, um Henrys Interesse wachzuhalten. Was geschieht, wenn ich alt bin und nicht mehr kann? Die Mädchen in meinen Gemächern sind dann immer noch jung und schön. Was geschieht dann?«
Ich konnte ihr keinen Trost spenden. »Erst einmal wollen wir den heutigen Abend hinter uns bringen. Vergiß die Jahre, die noch kommen. Wenn du einen Sohn und dann noch mehr Söhne hast, kann es dir gleichgültig sein, daß du älter wirst.«
Sie ließ eine Hand auf dem juwelenverzierten Mieder ruhen. »Mein Sohn«, sagte sie leise.
»Bist du bereit?«
Sie nickte, und wir gingen zur Tür. Sie sammelte sich, wie sie es sich angewöhnt hatte, straffte die Schultern, reckte das Kinn vor und lächelte strahlend und selbstsicher, nickte der Zofe zu, sie möge die Tür öffnen, und schritt hinaus, um sich, leuchtend wie ein Engel, dem Klatsch und
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