Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
läge.
»Hab keine Angst«, flüsterte ich.
»Diesmal können wir es nicht verheimlichen«, hauchte sie. »Alle haben es gesehen.«
Wir versuchten alles. Wir legten ihr eine Wärmpfanne auf die Füße, und der Arzt brachte ihr einen stärkenden Trank, zwei stärkende Tränke, einen Breiumschlag und eine ganz besondere Decke, die ein Heiliger gesegnet hatte. Wir setzten ihr Blutegel an und legten ihr eine noch heißere Bettpfanne auf die Füße. Es nutzte nichts. Um Mitternacht begannen die Wehen, echte Schmerzen und Krämpfe, echte Wehen. Anne zerrte an dem Laken, das von einem Bettpfosten zum anderen gespannt war, und stöhnte, während sich das Kind von ihrem Körper losriß. Um zwei Uhr morgens schrie sie laut, und das Kind glitt heraus, ohne daß jemand etwas dagegen hätte tun können.
Der Hebamme, die es auffing, entfuhr ein entsetzter Aufschrei.
»Was ist?« Anne keuchte, das Gesicht hochrot von der Anstrengung.
»Es ist ein Ungeheuer!« sagte die Frau. »Ein Ungeheuer.«
Anne bebte vor Angst. Ich wich mit abergläubischem Schrecken ein wenig von ihrem Bett zurück. In den blutigen Händen der Hebamme lag ein schrecklich mißgestaltetes Kind. Das Rückgrat war offen, der riesige Kopf zweimal so groß wie der spindeldürre kleine Körper.
Anne schrie auf und kroch zurück, weg von dem Kind zum |612| Kopfende des Bettes, hinterließ eine Blutspur auf Laken und Kissen. Sie sackte an den Bettpfosten zusammen, die Hände weit von sich gestreckt.
»Wickelt es ein!« rief ich. »Nehmt es fort.«
Die Hebamme schaute Anne mit ernster Miene an. »Was habt Ihr nur getan, um so ein Kind zu bekommen?«
»Nichts habe ich getan! Nichts!«
»Dies ist nicht das Kind eines Menschen, es ist das Kind des Teufels.«
»Ich habe nichts getan!«
Ich wollte »Unsinn!« sagen, aber mein Hals war mir vor Angst wie zu geschnürt. »Wickelt es ein!« Ich bemerkte die Panik in meiner Stimme.
Meine Mutter wandte sich vom Bett ab und eilte zur Tür. Ihr Gesicht war so ernst, als flöhe sie vom Block des Henkers auf dem Tower Green.
»Mutter!« rief Anne schwach.
Meine Mutter blickte sich nicht um, verlangsamte nicht einmal ihre Schritte. Wortlos verließ sie das Zimmer. Als die Tür hinter ihr zufiel, dachte ich: Das ist das Ende. Das Ende für Anne.
»Ich habe nichts getan«, wiederholte Anne. Sie drehte sich zu mir hin, und ich dachte an den Trank der Hexe und an die Nacht, als sie mit der goldenen Vogelmaske über dem Gesicht dagelegen hatte. Ich dachte an ihre Reise zu den Toren der Hölle und zurück, um dieses Kind für England zu empfangen.
Die Hebamme wandte sich ab. »Ich werde dem König darüber berichten müssen.«
Ich versperrte ihr den Weg zur Tür. »Ihr solltet Seine Majestät nicht beunruhigen«, sagte ich. »Er will das sicher nicht wissen. Diese Frauengeheimnisse sollten unter uns Frauen bleiben. Wir wollen alles unter uns behalten, dann sind Euch die Gunst der Königin und mein Wohlwollen sicher. Ich veranlasse, daß Ihr für Eure heutigen Dienste gut entlohnt werdet, Mistress, ich verspreche es Euch.«
Sie blickte nicht einmal zu mir auf. Sie hielt das Bündel auf den Armen. Die Windeln verbargen den grausigen Anblick. |613| Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte ich eine Bewegung zu sehen, als wollte eine kleine Hand das Tuch zur Seite schieben. Die Hebamme hielt mir das Bündel vors Gesicht, und ich wich davor zurück. Diese Gelegenheit nutzte sie, um zur Tür zu gelangen.
»Ihr geht nicht zum König!« schimpfte ich ihr hinterher und packte sie beim Arm.
»Wißt Ihr es denn nicht?« fragte sie mich mit beinahe mitleidiger Stimme. »Wißt Ihr denn nicht, daß ich bereits in seinen Diensten stehe? Daß er mich geschickt hat, damit ich für ihn aufpasse und lausche? Man hat mich von Anfang an, seit der ersten ausgebliebenen Blutung der Königin, zu dieser Aufgabe bestellt.«
»Warum?«
»Weil er Zweifel hat.«
Ich mußte mich mit der Hand an der Wand abstützen. Es drehte sich mir alles im Kopf. »Zweifel?«
Sie zuckte die Achseln. »Er wußte nicht, warum sie kein Kind austragen konnte.« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf das schlaffe Stoffbündel. »Jetzt weiß er es.«
Ich leckte mir die trockenen Lippen. »Ich gebe Euch, was Ihr verlangt, wenn Ihr das Bündel hinlegt, zum König geht und ihm sagt, daß sie ein Kind verloren hat, daß sie aber wieder eines empfangen kann«, versuchte ich sie zu überreden. »Was immer er Euch zahlt, ich verdopple es. Ich bin eine Boleyn, wir
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