Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
Anne.
»Ich kann meine Füße nicht einmal sehen, geschweige denn waschen.«
|206| Anne ließ die Waschschüssel auf den Boden stellen, so daß ich auf dem Schemel sitzen konnte, während mir die Zofe die Füße wusch.
»Ich mache nur, was man mir aufträgt«, sagte Anne kühl. »Ich dachte, du würdest es begreifen.«
Ich schloß die Augen und genoß mein Fußbad. Dann erfaßte ich den warnenden Ton ihrer Stimme. »Wer trägt dir so etwas auf?«
»Unser Onkel. Unser Vater.«
»Was?«
»Dafür zu sorgen, daß der König stets an dich denkt, sich ständig mit dir beschäftigt.«
Ich nickte. »Natürlich.«
»Und wenn das nichts nützt, auch mit ihm zu flirten.«
Ich setzte mich auf. »Onkel hat dir befohlen, mit dem König zu flirten?«
Anne nickte.
»Wann? Wo?«
»Er ist nach Hever gekommen.«
»Er ist mitten im Winter den weiten Weg nach Hever geritten, um dir aufzutragen, mit dem König zu flirten?«
Sie nickte und lächelte nicht.
»Großer Gott, wußte er denn nicht, daß du das ohnehin tun würdest? Daß es dir so natürlich ist wie das Atmen?«
Anne mußte unwillkürlich lachen. »Offenbar nicht. Er ist gekommen, um mir zu sagen, unsere erste Aufgabe, deine und meine, sei es, dafür zu sorgen, daß der König während deines Wochenbettes und nach der Geburt sein Vergnügen überall suchen mag, nur nicht unter den Röcken eines Seymour-Mädchens.«
»Und wie soll ich das verhindern?« wollte ich wissen. »Ich werde doch die meiste Zeit in der Wöchnerinnenstube verbringen.«
»Genau. Deswegen soll ich es ja für dich in die Hand nehmen.«
Ich überlegte einen Augenblick. Meine älteste Kindheitsangst beschlich mich. »Aber was ist, wenn er dich dann lieber mag?«
|207| Annes Lächeln war so süß wie Gift. »Was macht das schon? Solange es nur ein Boleyn-Mädchen ist.«
»Das sagt Onkel Howard? Denkt er gar nicht an mich, die im Wochenbett liegt, während er meiner Schwester aufträgt, mit dem Vater meines Kindes zu flirten?«
Anne nickte. »Nein, an dich denkt er überhaupt nicht.«
»Ich wollte nicht, daß du zum Hof zurückkehrst, um meine Rivalin zu werden«, schmollte ich.
»Ich bin geboren, um deine Rivalin zu sein«, erwiderte sie schlicht. »Und du die meine. Schließlich sind wir Schwestern, oder nicht?«
Sie erledigte ihre Aufgabe mit Bravour, mit einem solchen Charme, daß niemand überhaupt merkte, was da vor sich ging. Sie spielte mit dem König Karten, und sie spielte so gut, daß sie immer um wenige Punkte geschlagen wurde. Sie sang seine Lieder. Sie ermutigte Sir Thomas Wyatt und ein halbes Dutzend andere, sich um sie zu scharen, so daß der König sie für die verführerischste junge Frau bei Hof halten mußte. Wo immer Anne sich hinbegab, da war Lachen und Schwatzen und Musik.
Henry saß stets bei mir oder bei Anne. Er bezeichnete sich als Dorn zwischen zwei Rosen, als Mohnblüte zwischen zwei reifen Ähren. Er legte mir die Hand auf den Rücken, während er ihr beim Tanzen zusah. Er folgte den Noten, die ich auf meinem stets breiter werdenden Schoß ausgebreitet hatte, wenn sie ein neues Lied für ihn sang. Er wettete Geld auf mich, wenn ich gegen sie Karten spielte. Er beobachtete, wie sie mir ausgesuchte Fleischstücke von ihrem Teller vorlegte. Sie war schwesterlich und zartfühlend, sie hätte mich nicht liebevoller und aufmerksamer behandeln können.
»Du bist doch wirklich niederträchtig«, sagte ich eines Abends zu ihr, als sie ihr Haar vor dem Spiegel zu einem dicken dunklen Zopf flocht.
»Ich weiß«, erwiderte sie selbstgefällig und betrachtete ihr Ebenbild.
Es klopfte an der Tür, und George steckte seinen Kopf ins Zimmer. »Darf ich hereinkommen?«
|208| »Natürlich«, antwortete Anne. »Und mach die Tür zu, draußen auf dem Flur tobt ein Orkan.«
Gehorsam schloß George die Tür hinter sich und schwenkte einen Krug mit Wein. »Möchte jemand mit mir ein Glas Wein trinken? Nein, Mylady Fruchtbarkeit nicht? Und auch nicht Mylady Frühling?«
»Ich hätte gedacht, daß du mit Sir Thomas ins Bordell gegangen wärst«, bemerkte Anne. »Er hat gesagt, er hätte heute Nacht noch ein Gelage vor.«
»Der König hat mich aufgehalten«, erwiderte George. »Er wollte mich nach dir ausfragen.«
»Nach mir?« erwiderte Anne, plötzlich hellwach.
»Wollte wissen, wie du wohl auf eine Einladung reagieren würdest.«
Unwillkürlich krallten sich meine Finger in die rote Seide der Laken. »Was für eine Einladung?«
»In sein Bett.«
»Und was hast du
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