Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
führte sie zu einem Kuß an die Lippen.
|235| Ich bemerkte, wie sich das Gesicht des Königs überschattete, offenbar staunte er über Annes Unverfrorenheit. Der König legte sich das Tuch um den Hals und öffnete das Tor des Tennisplatzes. Sofort erhoben sich alle Damen überrascht und sanken in den Hofknicks. Anne blickte sich um, entzog gelassen Sir Francis ihre Hand und machte ebenfalls einen kleinen Hofknicks.
»Habt Ihr das Spiel überhaupt verfolgt?« fragte der König sie unvermittelt.
Anne erhob sich und lächelte ihm ins Gesicht, als bedeute ihr seine Verstimmung nichts. »Etwa die Hälfte«, antwortete sie gelassen.
Henrys Gesicht wurde finster. »Die Hälfte, Madam?«
»Wieso sollte ich Euren Gegner beobachten, Majestät, wenn Ihr Euch auf dem Platz befindet?«
Eine Sekunde lang herrschte Stille, dann lachte Henry laut auf, und die Höflinge fielen in dieses Lachen ein, als hätten sie nicht noch eine Sekunde zuvor über Annes Unverschämtheit den Atem angehalten. Die lächelte strahlend.
»Dann konntet Ihr allerdings dem Spiel keinen Sinn abgewinnen«, meinte Henry. »Da Ihr nur die Hälfte saht.«
»Ich sehe die ganze Sonne und nichts vom Schatten«, erwiderte sie. »Den ganzen Tag und nichts von der Nacht.«
»Ihr nennt mich die Sonne?« fragte er.
Sie lächelte ihn an. »Blendend«, flüsterte sie, und das Wort wirkte auf einmal wie das intimste Kompliment. »Blendend.«
»Ihr nennt mich blendend?« fragte er.
Sie schlug die Augen weit auf, als sei sie über sein Mißverständnis erstaunt. »Die Sonne, Majestät, die Sonne ist heute besonders blendend.«
Hever war eine wohlbefestigte kleine Insel inmitten der üppig grünen Felder von Kent. Wir ritten durch ein achtlos offengelassenes Tor am östlichen Ende in den Park, dann auf die Burg zu, während dahinter die Sonne unterging. Die rot gedeckten Dächer leuchteten im goldenen Abendlicht, der graue Stein der Mauern spiegelte sich im stillen Wasser des Grabens.
|236| »Schön«, meinte George knapp. »Man wünscht sich, man könnte immer hier sein.«
Wir überquerten die Bohlenbrücke über den Fluß. Auf den Wiesen zu beiden Seiten des Flusses hatte man Heu gemacht, und der süße Grasgeruch lag in der Abendluft. Dann hörten wir einen Schrei, und einige livrierte Leute meines Vaters kamen aus der Wachstube getaumelt, stellten sich auf der Zugbrücke auf, schirmten ihre Augen gegen das Abendlicht ab.
»Es ist der junge Herr mit Mylady Carey«, rief einer der Soldaten. Ein Junge in der hinteren Reihe machte auf dem Absatz kehrt und rannte mit der Nachricht in den Burghof. Wir versammelten die Pferde zum Schritt, während jemand die Glocke läutete, die Wachen aus ihrem Aufenthaltsraum gelaufen kamen und die Bediensteten in den Hof hasteten.
George warf mir angesichts der traurigen Inkompetenz unserer Soldaten ein melancholisches Lächeln zu und zügelte sein Pferd, so daß ich als erste in den Burghof einreiten konnte. Alle rannten dort zusammen, angefangen von den Küchenjungen bis hin zur Beschließerin.
»Mein Lord, Lady Carey«, begrüßte sie uns. Der oberste Diener trat mit ihr vor, und beide verneigten sich. Ein Pferdeknecht nahm die Zügel meines Pferds, und der Hauptmann der Wache half mir absitzen.
»Wie geht es meinem kleinen Jungen?« fragte ich die Beschließerin.
Sie deutete mit dem Kopf zur Treppe in der Ecke des Hofs. »Da ist er.«
Ich wandte mich rasch um, während die Amme mein Kind ins Sonnenlicht brachte. Zunächst mußte ich verkraften, wie sehr der Junge gewachsen war. Ich hatte ihn zuletzt gesehen, als er gerade einmal einen Monat alt und noch ziemlich winzig war. Nun waren seine Wangen rosig und rund. Die Amme hatte sein blondes Köpfchen in ihre Hand geschmiegt, und ich verspürte eine so mächtige Eifersucht, daß bei dem Anblick ihrer großen roten, abgearbeiteten Hand auf dem Kopf des Königssohnes, meines Sohnes, beinahe körperliche Übelkeit |237| in mir aufstieg. Er war fest in Windeln gewickelt und mit breiten Bändern auf sein Wickelbrett geschnürt. Ich streckte die Arme nach ihm aus, und die Amme reichte ihn mir.
»Es geht ihm gut«, sagte sie beinahe entschuldigend.
Ich hob ihn hoch, so daß ich sein Gesicht sehen konnte. Seine kleinen Arme und Händchen waren fest an die Seite gebunden, sogar sein Kopf war reglos. Nur die Augen konnte er bewegen, und sie erforschten neugierig mein Gesicht.
»Er ist wunderschön«, flüsterte ich.
George, der lässig vom Pferd gestiegen war, warf
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