Die Schwester der Nonne
Tränen. Die Erinnerungen an Klaus gehörten zu ihrer glücklichen Zeit, aber nicht mehr zu ihrer Kindheit. Die Grenze war überschritten. Die Kinder waren erwachsen geworden, und damit hatte sich alles geändert. Das war etwas, was nicht aufzuhalten war. Mit der Kindheit verlor man seine Unschuld. Man ließ etwas zurück, was unwiederbringlich verloren war.
Nur kurz erinnerte sie sich auch an das Gesicht von Eckhardt, ihrem zukünftigen Mann. Wie konnte Vater ihr das nur antun? Begriff er nicht, dass sie diesen alten hässlichen Mann niemals lieben könnte? Gut, ihr Vater mochte in dem selben Alter sein, aber die Liebe zum Vater war etwas anderes als die Liebe zu einem Mann, mit dem man verheiratet war.
Das lüsterne Grinsen eines Greises, der wohl kaum noch in der Lage war, Nachwuchs zu zeugen. Katharina schauderte.
Sie holte sich eines der Brote herunter, die auf einer Stange aufgereiht hingen. Sie riss ein Stück ab und biss hinein. Plötzlich verspürte sie Hunger. Sie riss ein zweites Stück ab, tunkte es in den Sauerrahm und aß es. Es tat gut. Stück für Stück verspeiste sie das Brot mit Sauerrahm, nahm sich dazu kleine Zwiebeln und sauer eingelegtes Gemüse aus einem Fass. Es schmeckte köstlich. Zum Schluss gönnte sie sich ein Stück Käse und eine Scheibe von luftgetrocknetem Schinken, trank Buttermilch und Wein und nahm sich als Nachtisch einen rotbackigen Apfel.
Draußen dunkelte es. Sie hörte es rumoren. Die Tiere wurden eingetrieben und getränkt. Die beiden Maultiere bekamen ihren Platz im Stall und frisches Heu, mehrere Katzen warteten auf die abendliche Milchportion, und der kleine gefleckte Hund umsprang Thomas kläffend vor Ungeduld. Natürlich gab es auch für ihn eine Schüssel voll Milch.
Katharina hockte satt und träge auf den Kornsäcken und döste vor sich hin.
Diese abendlichen Geräusche aus Stall und Hof waren ihr so vertraut. Es war fast wie daheim. Sie schloss die Augen und schlief ein.
Es war schon dunkel, als jemand an ihrer Schulter rüttelte. Sie riss erschrocken die Augen auf. Im Schein einer kleinen Lampe sah sie Thomas’ Gesicht.
»Wir müssen aufbrechen«, sagte er. Seufzend stieg Katharina von ihrem Lager.
»Es ist doch dunkel«, stellte sie fest. »Wie können wir da in den Wald gehen?«
»Ich werde dich führen«, erwiderte Thomas, doch seine Stimme war nicht so fest, wie sie sein sollte.
Es war keine Selbstverständlichkeit, um diese Zeit in den Wald zu gehen. Doch er wollte vor Katharina seine Angst nicht zeigen. Er wünschte sich, ihr Ritter zu sein, ein Ritter ohne Furcht, erfüllt von Treue und Liebe zu seiner Angebeteten. Diese war ohne Zweifel schon seit Jahren Katharina, aber erst jetzt bekam dieser Traum eine ganz andere Bedeutung.
Katharina fröstelte. Sie hüllte sich in ihren Umhang und nahm den kleinen Beutel zur Hand, den sie mit sich führte. In aller Eile hatte sie ein paar Sachen hineingesteckt.
Thomas leuchtete ihr aus der Kammer hinaus.
»Vater schläft schon«, flüsterte er. »Er ist alt und kränkelt seit einiger Zeit. Die Dämpfe aus dem Sumpf bekommen ihm nicht. Ich fürchte, er wird bald daheim im Stadthaus bleiben müssen.«
Katharina nickte stumm und achtete darauf, nicht über die Kisten und Körbe zu stolpern, die vor der Kammer standen. Thomas führte sie hinaus. Damit der Hund sie nicht durch sein aufgeregtes Bellen verriet, sperrten sie ihn kurzerhand ein. Noch nie hatte sich Katharina im Dunkeln außerhalb des Hauses aufgehalten. Dazu war sie viel zu furchtsam. Als sie auf der Straße standen, kamen ihr Bedenken.
Thomas ergriff ihre Hand und bemerkte, wie sie zitterte.
»Ich bin bei dir«, versuchte er ihr Mut zu machen.
»Ich weiß«, flüsterte sie zurück. Sie tappte neben ihm her.
Die sonst so geschäftige Via Regia lag still. Kein Mensch war zu sehen. Wer konnte, hatte vor Einbruch der Dunkelheit die Stadt mit seinen schützenden Mauern erreicht oder in der vorgelagerten Funkenburg Quartier bezogen.
Langsam gewöhnten sich Katharinas Augen an die Dunkelheit, und sie konnte Einzelheiten unterscheiden. Sie drehte sich um und warf einen Blick zurück. Am Horizont zog sich die Silhouette der Stadt hin. Nur die Kirchtürme ragten wie dunkle, mahnende Finger in den Nachthimmel und verdeckten die Sterne. Über den Pfingstwiesen waberte Nebel wie Wasser. Dahinter lag düster der Wald des Rosentals. Sie packte Thomas’ Hand fester und bemühte sich, dicht neben ihm zu bleiben. Seine Nähe gab ihr Mut. Sie überquerten
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