Die Schwester der Nonne
Augen.
»Ich habe nicht geglaubt, das alles noch einmal wiederzusehen«, flüsterte er mit erstickter Stimme. Dann schien er sich zu besinnen und wandte sich zum Wagen um. Er streckte die Hand einer Frau entgegen, die herabkletterte und sich ebenfalls umschaute. Im Gegensatz zu dem Mann lächelte sie. Dann ging sie langsam zum Prellerschen Handelshaus hinüber, dessen Tür und Fensterläden fest verschlossen waren. Sie klopfte dagegen. Lange Zeit tat sich nichts. Ein wenig ratlos wandte sich die Frau zu den Männern um, die noch bei den Wagen standen. Sie wollte schon wieder gehen, als die Tür vorsichtig geöffnet wurde. Dann wurde sie weit aufgerissen. Die alte Walburga kniff die Augen zusammen, riss sie wieder auf, schnappte nach Luft und brüllte dann ganz laut los.
»Ist es denn die Möglichkeit! Nein, das kann nicht wahr sein, und doch sehen meine Augen nichts anderes! Die Herrin Philomena höchstpersönlich! Und da – da – da ist ja auch der Herr Preller! Mein Gott, mein Gott, was für ein Tag!«
Sie schlug die Hände zusammen und drehte sich im Kreis, rief ins Haus hinein und rannte dann auf den Marktplatz hinaus.
»Der Herr Hieronymus ist wieder da!« Sie begann zu heulen und zu schluchzen und betastete Hieronymus, als könne sie es gar nicht glauben. »Und der werte Herr Sikora ist auch dabei. Und wir alle haben geglaubt, Sie weilen schon nicht mehr unter den Lebenden, nach allem, was geschehen ist.«
Im Nu waren sie von Menschen umringt. Die Mägde und Knechte des Hauses kamen gelaufen, ebenso wie der Prokurist und die Amme, die Nachbarn, so sie in der Stadt geblieben waren, und einige Neugierige.
Dem Prokuristen, aber auch allen anderen Angestellten des Hauses war eine gewisse Erleichterung anzusehen, gleichzeitig gepaart mit einer besorgten und gedrückten Miene.
»Was ist mit der Stadt geschehen? Wo sind die ganzen Bewohner?«, wollte Hieronymus wissen.
»Ihr könnt es nicht wissen«, murmelte die Amme und kämpfte gegen die Tränen. Walburga weinte laut und schlug die Schürze vors Gesicht. Betroffen schauten die Reisenden sie an.
»Der Torwächter sprach von einer Hexe. Hat sie die ganze Stadt verhext? Wo sind die Menschen?«
»Draußen in der Aue, wo sie einer Wasserprobe unterzogen werden soll. Ich befürchte …« Die Amme brach nun auch in herzergreifendes Schluchzen aus.
»So sprich doch«, forderte Hieronymus sie auf.
»Es … es ist Maria.«
Hieronymus wurde blass.
»Nein«, stieß er hervor. »Nein, nein!«
Philomena versuchte ihn zu beruhigen. Doch Hieronymus wehrte sie ab.
»Ich bin daran schuld. Ich hätte nicht von hier fortgehen sollen.« Seine Verzweiflung fand keinen Trost. Er schämte sich seiner Tränen nicht. Alles war vergebens, was er in den letzten Monaten auf sich genommen hatte. Seine geliebte Maria war tot. Und er hatte sie sicher im Schoße des Klosters gewähnt.
Von der anderen Seite des Platzes, vom Barfußpförtchen her, erklang Lärm. Eine ungeheure Menschenmenge walzte heran, verstopfte die Gassen. Die unheimliche Stille der verlassenen Stadt kehrte sich ins Gegenteil um.
Maria war es peinlich, so ungestüm gefeiert zu werden. Sie sorgte sich um Katharina. Hans hatte ihr versichert, dass sie in Sicherheit sei. Ihre Verletzungen jedoch waren erheblich. Klaus und Thomas kümmerten sich um sie.
Der Jubel der Leute war nicht zu bremsen. Viele ältere Bewohner der Stadt kannten die Zwillinge noch als Kinder und waren angetan von ihrer guten Erziehung, ihrem feinen Benehmen, ihrer Freundlichkeit und Mildtätigkeit. Die lähmende Angst vor dem Bösen, vor Hexen und Zauberern, vor den Qualen der Hölle und dem ewigen Leiden der Sünder, die die eifrigen Prediger der Kirche immer wieder verbreiteten, hatte sich mit einem Schlag gelöst. Ob es ein Wunder war, eine seltsame Fügung, nicht wenige hatten schon immer geglaubt, Maria sei eine Heilige.
Als sich die Menschenmenge vor ihnen teilte und über den Markt ergoss, stutzte Maria. Sie starrte zu den vier großen Planwagen hinüber, Wagen, wie sie früher häufig von den Handelsreisen des Vaters zurückkamen und Waren brachten. Und der Mann, der dort daneben stand …
»Vater!«
Ihr Schrei gellte über den Platz und ließ alle Menschen erstarren. Sie schauten in die gleiche Richtung. Tatsächlich, das war Hieronymus Preller. Alt war er geworden, sein Haar weiß und schütter wie bei einem Greis, seine Falten tief und seine Augen klein. Sein Rücken hatte sich gekrümmt wie ein alter Baum und seine stets
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