Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
schwanger und krank, ihr Mann, so schrieb sie, war gestorben, sie hatte niemanden mehr und sicher auch das Recht auf Unterstützung ihrer Familie verwirkt, nur um ihres ungeborenen Kindes willen bitte sie.
Luis schwieg. «Es ist eine schauerliche Geschichte», sagte er dann. «Wohl auch eine lächerliche, ich weiß, sicher habt Ihr Hunderte ähnliche gehört, aber …»
«… aber für den, den sie trifft, ist es die Hölle. Wolltet Ihr das sagen?»
Er lächelte matt. «So ungefähr. Ja. Für diese mir unbekannte Antonie wie auch für meine Frau Großmutter. Sie hat meinen Vater gefragt, nachdem sie diesen Brief gefunden hatte, er hat davon gewusst. Und jetzt kommt vielleicht das Schlimmste. Er wusste auch, dass Antonie inzwischen gestorben war, nämlich einige Monate nach der Geburt ihres Kindes, eines Mädchens, und er hat es für sich behalten. Er hatte vor Jahren beschlossen, seine Schwester sei für ihn und die Familie – immer alles für die Familie! – gestorben, da fand er es nicht nötig, es ihrer und seiner Mutter zu sagen. Angeblich um ihr den Schmerz zu ersparen. Ich finde das grausam.»
Rosina nickte. Dazu gab es nichts zu sagen. «Dann ist dieses Kind Eure Base?»
«Ist oder wäre. Denn hier hört die Spur schon auf. Ich weiß, das heißt, meine Großmutter und auch mein Vater wissen, dass Antonie in Hamburg oder im Umland gestorben ist. Es gab nämlich Nachbarn, die nach ihrem Tod eine Nachricht von hier geschickt haben. Die hat mein Großvater wie frühere Briefe verschwinden lassen, nur mein Vater wusste davon. Sie waren oft uneins, aber sich in dieser Angelegenheit offenbar absolut einig. Die Nachbarn hatten unseren Namen und die Adresse wohl in Antonies Sachen gefunden. Wer die sind oder waren, das weiß niemand. Außer – vielleicht – mein Vater. Ihn konnte ich nicht fragen, ich musste meiner Großmutter schwören, ihm nichts von dem zu erzählen, was sie mir anvertraut und worum sie gebeten hat. Jedenfalls nicht, bis ich Antonies Tochter gefunden habe. Versteht Ihr jetzt, was ich von Euch will, ich meine: erhoffe? Und welche Talente ich vorhin gemeint habe? Ihr seht nachdenklich aus, Madam Vinstedt. Darf ich daraus schließen, dass Ihr schon über die Angelegenheit nachdenkt?»
«Die Angelegenheit, ja.» Rosina neigte abwägend den Kopf. Während des letzten Teils der Geschichte war eine andere, kaum weniger dramatische aus der Erinnerung aufgetaucht. Eine, an die sie höchst ungern dachte, weil die einmal fast ihr eigenes Leben gekostet hatte. Hörte sie da ein Warnglöckchen? Damals war auch ein aus der Vergangenheit aufgetauchter Cousin im Spiel gewesen, Verwandtschaft, letzte Wünsche eines alten und dem Tode nahen Menschen. Liebe auch. Und Vergebung.
Das letzte Wort gab den Ausschlag, dieser tröstliche Gedanke. Ohne diese Vergebung hätte sie kaum den Frieden gefunden, den dieses letzte Wiedersehen ihr gegeben hatte. Liebe und Vergebung. Sie hatte sich niemals gefragt, ob die mörderischen Gefahren und Schrecken auf dem Weg dorthin ein zu hoher Preis gewesen waren. Es war der Preis gewesen, und sie hatte unendlich viel dafür bekommen.
«Hatten diese Nachbarn damals auch von dem Kind geschrieben? Ich nehme an, sie haben angefragt, wann die Familie der Mutter es holen kann.»
«So ähnlich, ja, sie haben wohl gefragt, ob jemand von der Familie kommen könne, um das Mädchen zu holen.»
«Und?»
«Nichts. Ihr Schreiben blieb unbeantwortet.»
«Kam danach denn kein zweiter Brief? Man muss doch immer annehmen, dass einer verloren gegangen ist, wenn man vergeblich auf Antwort wartet.»
«Danach hat meine Großmutter auch gefragt. Da war nur dieser eine Brief, diese eine Anfrage, was mit dem Kind werden solle. Ich glaube nicht, dass mein Vater hier gelogen hat.»
Womöglich, dachte Rosina, kam kein weiterer Brief, weil das Mädchen inzwischen gestorben war. Wie seine Mutter. «Ihr wollt also, dass ich dieses Kind für Euch finde», sagte sie. «Oder für Eure Großmutter, Madam Sachse?»
«Für uns beide.»
«Wieso glaubt Ihr, mir könnte das gelingen? Nach all den Jahren. Wie alt wird sie jetzt sein?»
Luis zuckte mit den Achseln. «Dieser Brief, den meine Großmutter gefunden hat, hat kein Datum. Die spätere Nachricht der Nachbarn existiert nicht mehr. Davon hat mein Vater ihr nur berichtet.»
«Und Euer Vater, also Antonies Bruder, hat sich ebenso unversöhnlich gezeigt? Zumindest nach dem Tod Eures alten Patriarchen hätte er doch nach ihr suchen lassen können. Wenn
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