Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
aufgenommen, aber von dort betreut. Etwa bis zu ihrem vierten, manchmal sechsten Lebensjahr werden sie zu einer Amme oder zu Kosteltern gegeben, vornehmlich auf dem Land. Da diese Familien Kostgeld bekommen, werden darüber Akten geführt. Die Betreuung der Kinder wird auch kontrolliert, jedenfalls theoretisch, tatsächlich finden die Provisoren und Vorstände des Waisenhauses nie genug Zeit, alle Kinder mit der eigentlich vorgeschriebenen Regelmäßigkeit zu besuchen. Es sind einfach zu viele.»
Sie entschied sich dagegen, ihm von den gruseligen Geschichten zu erzählen, die man erfuhr, sobald man begann, sich für so ein Kostkind zu interessieren. Da war von beliebig unter den Kosteltern ausgetauschten Kindern, von Leuten, die jahrelang das Kostgeld genommen hatten, ohne zu melden, dass das ihrer Obhut anvertraute Kind längst gestorben war. Manche Kinder, Rosina befürchtete, es waren viele, wurden wie kleine Arbeitssklaven gehalten.
«Dann kann ich ins Waisenhaus gehen», überlegte Luis, «und in den Akten nachsehen, ob sie dort geführt worden ist.»
«Ihr solltet es versuchen, unbedingt. Zumindest einen Antrag stellen. Nichts geht ohne Antrag. Allerdings werden die Akten von einem alten Zerberus bewacht, ich weiß nicht, wer sie einsehen darf und aus welchem Grund. Nach einem Versuch werdet Ihr es wissen. Sonst gebt mir Bescheid, ich denke, ich weiß, wer da helfen könnte. Für Akten braucht man allerdings einen Namen, sie ist als Antonie Sachse davongelaufen, ihr Kind wird den Namen des Vaters bekommen haben. Wie war der Ehename?»
«Den Brief hat sie mit Antonie Merg unterschrieben, aber wie schon gesagt, ob sie tatsächlich verheiratet war, weiß ich nicht. Ohne Papiere, ohne väterliche Erlaubnis? Das ist doch nicht so einfach.»
«Ach, da lässt sich manches zaubern, Luis, und noch mehr mit ein paar Münzen regeln. Antonie Merg? Hmm, Merg …»
«Sagt Euch der Name etwas?» Luis’ Augen leuchteten hoffnungsvoll auf.
«Nein, ich glaube, nicht. Es ist kein sehr seltener Name, denke ich, aber hier auch nicht so häufig wie Müller oder Hansen. Jedenfalls muss es im Waisenhaus die Listen der in jedem Jahr aufgenommenen Kinder geben. Listen in dicken Büchern, da bin ich sicher. Soviel ich weiß, hat es in den vergangenen zwei Jahrzehnten dort nicht gebrannt, also wird noch alles da sein. Und wenn sie hier getauft worden ist, helfen auch die Kirchenbücher weiter. Man kann unter beiden Namen suchen, dann …» Sie schwieg plötzlich und starrte in den Kaffeesatz in ihrer Tasse. Luis sah sie gespannt schweigend an. «… dann muss man sie finden, falls sie dort gewesen ist, wollte ich sagen. Aber das muss nicht sein. Womöglich war sie eines von den Kindern, wie sie auch in dieser Stadt häufig sind. Kinder, die niemand haben will oder ernähren kann. Die ausgesetzt werden, mit Glück vor einer Kirchentür, dort erbarmt sich ihrer der Pfarrer und bringt sie ins Waisenhaus. Als Findelkinder. Und dort wiederum, Luis, bekommen sie einen Namen. Irgendeinen, nach den Regeln des Waisenhauses, ich glaube, für jeweils ein Jahr alle Kinder einen mit dem gleichen Anfangsbuchstaben. Wenn das mit Antonies Tochter geschehen ist, hilft die beste Liste nichts, und es gibt kaum Hoffnung, sie zu finden. Dann sucht Ihr nicht nur die Nadel im Heuhaufen, sondern einen Hering im Ozean.»
Als Luis sich bald darauf verabschiedete, hielt Rosina ihn in der Diele noch für einen Moment auf. «Ihr wohnt auf dem Borgesch im Eschenkrug , das stimmt doch?»
Er nickte und sah sie wachsam an. «Ja, warum?»
Rosina amüsierte sich. «Warum? Macht Ihr Scherze? Ich soll helfen, Eure seit zwei Jahrzehnten verschollene Verwandte zu finden, da sollte ich wissen, wo ich im Falle eines Erfolgs Euch finde. Ich bin versucht zu vermuten, es ist doch nicht so ernst mit der Suche. Nein, das war ein Scherz meinerseits», wehrte sie seine im Widerspruch erhobenen Hände ab. «Ich habe wegen des Eschenkrugs gefragt, weil Ihr Mamsell Elske mein Mitgefühl ausdrücken sollt. Zwei ihrer Freundinnen sind tot, wenn sie auch abstritt, sie so zu bezeichnen. Ich habe gehört, Ihr kenntet Elske recht gut. Jedenfalls wohnt Ihr unter demselben Dach.»
«Es ist ein Gasthaus, Madam.»
«Sicher, ein Gasthaus. Wie man auch hört, dank Elske ein manierliches. Aber darum geht es mir jetzt nicht. Ich nehme an, sie weiß es selbst am besten, trotzdem erinnert sie daran, achtzugeben. Du meine Güte, es macht keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Ich
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