Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
diesem eher abenteuerlich als empfindsam wirkenden jungen Mann merkwürdig theatralisch wirkte. «Ich hatte ja versprochen, am Anfang anzufangen.»
Am Tag bevor er sich mit einem der Flöße auf den Weg nach Hamburg machen sollte, hatte ihn seine Großmutter zu sich gerufen. Es sei ungewiss, ob sie noch lebe, wenn er zurückkehre, hatte sie erklärt und seine erschreckten Beteuerungen des Gegenteils kühl weggewischt. Das wisse man in ihrem Alter nun mal nie, es sei nicht zu erörtern, es unterstreiche lediglich die Dringlichkeit ihres Anliegens. Er solle einfach zuhören.
Wahrscheinlich, so fuhr sie fort, wisse er nichts von ihr, der Name bleibe in diesem Haus seit fast einem Vierteljahrhundert ungenannt, die meisten hätten ihn wohl auch vergessen, die Jüngeren nie gehört. Doch er, Luis, habe eine Tante gehabt, die einzige Schwester seines Vaters, sie sei etwa ein halbes Jahr vor seiner, Luis’, Geburt verschwunden. Um es genau zu sagen: davongelaufen.
Antonie Sachse, so war ihr Name, war von jeher eine kleine Schwärmerin gewesen, sie stellte Fragen nach fremden Ländern und Sitten, niemand wusste, wie sie auf solche Ideen kam, aber zumeist war sie still, immer freundlich und fleißig, und alle waren es zufrieden. Sie war längst als Ehefrau für einen Notar vorgesehen, eine gute, sichere Partie, natürlich, sie sollte ja ein gutes, sicheres Leben haben. Sie hatte dem nie widersprochen, alle glaubten, sie sei ihrem zukünftigen Ehemann von Herzen zugetan.
«Vielleicht nicht gerade von Herzen», hatte da die alte Madam Sachse nachdenklich gemurmelt, «doch bestimmt so viel, wie nötig war.»
Und dann kam eine Gesellschaft von Komödianten in die Stadt, eine der größeren, die halbwegs manierliche Kleidung und Sitten zeigten, sie bauten ihr Brettertheater auf und blieben ganze drei Wochen, vielleicht waren es sogar vier. Als sie weiterzogen, verschwand auch die brave stille Antonie. Sie folge ihrem Herzen und ihrer Bestimmung, schrieb sie in dem Briefchen, das einige Tage später im Haus ihres Vaters eintraf und den größten Aufruhr verursachte, den diese Familie je erlebt hatte. Umso mehr, als man die Tochter des Hauses vermeintlich in der sicheren Obhut ihrer Patin in Dresden wusste. Niemand hatte dem Mädchen zugetraut, so listig zu agieren, und alle waren sicher, das konnte nur das Werk dieses verderbten Komödianten sein, der zudem noch – hier unterbrach die alte Madam sich mit einem so tiefen Seufzer, dass es beinahe sehnsüchtig klang, was natürlich ganz unmöglich war –, der zudem leider ein wirklich schöner Mann und ein wahrer Virtuose auf seiner Violine war.
Antonies über die Maßen zorniger Bruder, also Luis’ Vater, schwang sich sofort auf sein Pferd und machte sich auf die Suche. Er kehrte bald unverrichteter Dinge zurück. Es war einfach gewesen, die Komödianten aufzuspüren, eine solche Gesellschaft machte stets Spektakel, weil sie sonst ohne Publikum blieb. Der Violinist hatte sie verlassen, von einem Mädchen in seiner Begleitung wussten sie nichts. Oder gaben vor, nichts zu wissen.
Die eine oder andere Woche ging ins Land und wurde zu Monaten. Der freundliche Notar war von seinem Heiratsversprechen zurückgetreten, was ihm wirklich niemand verübeln konnte, und im Haus der Familie Sachse wurde nicht mehr von Antonie gesprochen. Antonie, so hatte der Hausherr bestimmt, existierte für die Familie nicht mehr.
«Und ich habe mich gefügt», erklärte die alte Madam Sachse ihrem Enkel Luis, «ich habe zugelassen, dass es meine Tochter für unsere Familie nicht mehr gab. Als sei sie gestorben, schlimmer noch, als habe ich sie nie geboren.»
Luis hatte gedacht, sie müsse nun doch weinen, das tat sie nicht, ihr Blick war grimmig in die Ferne gerichtet. «Als ihr Vater gestorben war», sprach sie weiter, «mein Ehemann, dem ich stets zugetan war, da habe ich in seinem Nachlass einen Brief gefunden. Einen nur, daraus ging aber hervor, dass es zumindest zwei weitere gegeben haben muss. Er hatte Nachricht von unserer Tochter gehabt und es mir nicht gesagt. Er hat sein Wissen sogar mit ins Grab genommen, obwohl genug Zeit gewesen wäre, es mit mir zu teilen, ich habe viele Stunden an seinem Bett gesessen, und wir haben noch über einiges gesprochen. Nur nicht über Antonie. Das kann ich ihm nie verzeihen. Niemals. Selbst wenn ich ihm im Jenseits begegne, und sei es direkt vor Gottes Richterstuhl. Ich werde grußlos an ihm vorübergehen.»
In dem Brief bat Antonie um Hilfe. Sie war
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