Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
nun schon vor geraumer Zeit gebracht hatte, sie war längst leer. «Wie alt seid Ihr, Luis?»
«In der Woche vor Pfingsten dreiundzwanzig Jahre. Warum?»
«Wenn Eure Tante, diese Antonie, ein halbes Jahr vor Eurer Geburt verschwunden ist, wird ihre Tochter heute mindestens ein Jahr jünger sein als Ihr. Es ist nicht bekannt, wann und woran der betörende Violinist gestorben ist?»
Luis schüttelte den Kopf, wieder wurde sein Ausdruck starr. «Sie hat geschrieben, er sei gestorben, ja, ob das stimmt – wer weiß? Ich habe die Vorstellung, sie hat das nur geschrieben, weil es für sie zu schrecklich war, einzugestehen, dass er sie verlassen hat, sitzen gelassen, als sie krank oder schwanger war. Ich bin nicht davon überzeugt, dass der Kerl tot ist.»
«Die Möglichkeiten in dieser Geschichte nehmen kein Ende. Habt Ihr wenigstens ein Bild von Eurer Antonie? Eine Miniatur zum Beispiel. Das würde helfen, falls ihre Tochter ihr gleicht. Sie dürfte jetzt in dem Alter sein, in dem ihre Mutter ihre Familie verlassen hat?»
«Ja, Antonie war die jüngere Schwester meines Vaters, sie war gerade einundzwanzig Jahre alt, als sie verschwand. Ein Bild gibt es nicht. Mag sein, es hat früher eines gegeben, dann wurde es wie alles, was an sie erinnerte, vernichtet.»
«Bei Euch herrschen gnadenlose Sitten. Man könnte glauben, sie habe jemand ermordet und sich nicht nur in den falschen Mann verliebt. Ja, ich weiß, sie hat Schande über die Familie gebracht. Nur – mit der Schande ist das so eine Sache, es gibt davon sehr unterschiedliche Vorstellungen. Hat sie etwas mitgenommen? Ich meine, etwas von Wert, das sie ihrer Tochter hinterlassen haben könnte. Schmuck, Familienbilder, vielleicht eine Dose von Silber oder Elfenbein, mit bestimmten Intarsien – etwas in der Art.»
Luis hob hilflos die Schultern. «Soviel ich weiß, nichts davon. Sie war noch unverheiratet, noch nicht einmal die Verlobung war offiziell, also besaß sie keinen wertvollen Schmuck, nichts, was über ein Silberkettchen, kleine Ohrringe oder einige Silberknöpfe oder eine Gürtelschnalle hinausgeht. Das ist bei uns nicht üblich.»
«Ihr seid keine große Hilfe, Luis», stellte Rosina fest. «Wie soll man ein solches Kind finden und wie soll man dann sicher sein, dass man das richtige gefunden hat? Ich hoffe nur, Ihr habt nicht in der Stadt herumerzählt, auf dieses Mädchen warte eine wohlhabende Familie, nun gut, keine ganze Familie, aber eine Großmutter mit eigenem Besitz. Wenn sich das herumspricht, habt Ihr innerhalb eines Tages ganze Wagenladungen von Basen vor Eurer Tür.»
«Daran habe ich nicht gedacht, herumerzählt habe ich es trotzdem nicht. Auch das zeigt, meine Entscheidung, Euch um Hilfe zu bitten, war richtig. Bei allem, was ich in Erfahrung gebracht habe, hieß es auch, Ihr wäret ungemein diskret.»
«Meistens, nicht immer. Ich muss darüber nachdenken, Luis, auch, ob ich Eurer Bitte überhaupt entsprechen will. Leider habt Ihr mir Eure Tante und ihr Kind so nahe gebracht, dass sie mir schon zu vertraut erscheinen, um sie einfach wieder zu vergessen. Besonders wenn ich mir vorstelle, hier lebt eine junge Frau in bitteren Verhältnissen, die ein sehr viel besseres Leben führen könnte, wenn man sie nur fände und ihrer Familie zurückgäbe. Und da kommen wir zu dem vielleicht schwierigsten Punkt: Wenn eine solche Suche Erfolg hat, kann das Ergebnis höchst unangenehm sein.»
«Ihr meint, wenn Antonies Tochter sich als ‹höchst unangenehm› erweist?»
«Ja. Die Chance, dass sie überhaupt noch lebt, steht kaum besser als eins zu eins. Schließlich ist ihre Mutter wenige Monate nach ihrer Geburt und offenbar im Elend gestorben, diese Leute haben nicht noch einmal geschrieben. Ich muss Euch sicher nicht vorrechnen, wie viele Kinder in ihren ersten Lebensjahren sterben. Die große Frage ist, wer sich des Mädchens nach dem Tod der Mutter angenommen hat. So oder so wird sie nicht in rosigen Verhältnissen aufgewachsen sein, Armut, Hunger, Krankheiten – Ihr wisst, was ich meine. Da wachsen nicht nur seelenvolle Engelchen heran.»
«Stimmt, auch das habe ich nicht bedacht. Ich fürchte, meine Großmutter ebenso wenig. Aber egal, wenn es sich so ergibt, werden wir sehen, was zu tun ist.»
«An das Waisenhaus am Hafen habt Ihr Euch sicher schon gewandt.»
«Nein, man hat mir gesagt, so kleine Kinder werden dort nicht aufgenommen.»
«Das stimmt nur halb. Nach der Regel werden Kleinkinder nicht im Haus am Rödingsmarkt
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