Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
spiegelglattem, festem Eis mit neugeschliffenen Schlittschuhen. Die Kutsche war nicht so schnell, es war eben nur eine Kutsche, kein im Galopp dahinfliegendes Vollblut, aber die Räder rollten hurtig, wo es an Geschwindigkeit mangelte, entschädigte das köstliche Gefühl von Freiheit. Schon wieder hielt sie die Zügel in den Händen, war diesmal allein, könnte – eigentlich – fahren, wohin es sie gerade trieb, die Vögel sangen, die Luft war klar, es roch nach Frühling. Nach Aufbruch. Vielleicht, wenn diese Sache geklärt war, wenn sie sich auch nach Luis’ verschollener Base erkundigt hatte, wenn Magnus noch nicht zurückgekehrt war, dann …
Sie erreichte die Stelle, an der sich der Weg teilte, und hielt. Am besten wäre es, die Kutsche hierzulassen, doch dies war kein sicherer Platz. Sie hatte versprochen, gut darauf achtzugeben. Es war nur eine Floskel gewesen. Brooks, der ihr lange vertraute Herrmanns’sche Kutscher und Stallmeister, wusste, dass sie sich auf den Umgang mit Pferd und Wagen verstand. Hätte er daran gezweifelt, hätte er ihr Anne Herrmanns’ Gefährt keinesfalls anvertraut, noch weniger den schnellen Fuchs.
Es war ein Zufall gewesen – es gab sie also doch, diese hilfreichen Zufälle? –, dass Brooks gerade die Kutsche fortbringen wollte, als sie auftauchte, um Madam Augusta zu besuchen. Die war ausgegangen, was ärgerlich war, denn Rosina hatte sie überreden wollen, mit ihr noch einmal zu Amanda Söder hinauszufahren, und zwar gleich. So bat sie Brooks, ihr die Kutsche zu überlassen, für eine Ausfahrt rein zum Vergnügen, sie werde den Wagen anschließend zur Remise beim Gartenhaus an der Außenalster bringen. Anders als Brooks habe sie sowieso nichts Besseres zu tun.
Gestern, nach der Rückkehr aus Wandsbek, hatte sie anderes bewegt. Zuerst brauchte Tobi ihre ganze Aufmerksamkeit, er war für sein Alter in seinen schulischen Fähigkeiten weit zurück. Er war nicht dumm, wenn aber im Waisenhaus drei oder vier Lehrer für alle dreihundert Waisen zur Verfügung standen und ältere Kinder die jüngeren unter ihre Fittiche nehmen mussten, war das kein Wunder. Tobi brauchte Hilfe und Übung im Lesen und Schreiben, im Rechnen sowieso. Damit war der Tag zu Ende gegangen. Und dann war das Wunderbarste geschehen – Post. Endlich wieder Post von Magnus. Leider wie gewöhnlich nur wenige Zeilen, keine seitenlangen Schilderungen seiner venezianischen Tage und Erlebnisse, keine innigen Versicherungen seiner Liebe. Ach, Magnus. Würde sie ihn nur durch seine Briefe kennen, müsste sie ihn für einen gefühllosen Langweiler halten. Weil sie ihn so viel besser kannte, bedeutete auch dieser Brief großes Glück. Und wollte gleich eine Antwort haben.
In der Nacht war sie erwacht. Nachdem sie ausführlich an ihren fernen Magnus gedacht hatte und mit dem nach Lavendel duftenden Kissen im Arm in den Schlaf hinübergeglitten war, wurde sie plötzlich wieder hellwach. Aus einer vagen Idee war eine runde geworden. Sie glaubte nun sicher zu wissen, wer neuerdings in Amanda Söders Haus lebte und für ein Minimum an Ordnung sorgte, soweit das eben in so kurzer Zeit möglich gewesen war.
Am Morgen war sie zu Wilhelmine Cordes’ Laden gegangen und hatte vorgefunden, was sie erwartet hatte. Die Tür war verschlossen. Die Cordes sei weg, erklärte eine Nachbarin, die im offenen Fenster lag und das vorüberziehende Leben bewachte. Mit ihrem Jungen, erklärte sie eifrig, schon am Freitag, ein Onkel sei krank, von dem habe man früher nie was gehört, der müsse von der Familie ihres Mannes sein. Der Cordes, der war ein guter Mann, und so früh gestorben, ein Jammer, wirklich ein Jammer. Es habe immer geheißen, es gebe keine Verwandtschaft, auch nicht von seiner Seite, sie habe auch nie jemand gesehen. Und nun dieser Onkel, ja, der liege auf den Tod, da müsse sie hin. Die Wilhelmine sei eben pflichtbewusst, aber womöglich war der alte Kerl auch kinderlos und gut betucht.
«Aber einfach weg, von eben auf jetzt, wo der Junge einen Freiplatz an der Gelehrtenschule hat, von ’ner mildtätigen Stiftung bezahlt, also einfach schwänzen! Das geht doch nicht.»
Mit einem Wagen sei sie weggefahren, wo sie den wohl hergehabt hatte, war eher nur ’n kleines Fuhrwerk. Ein Pastor habe kutschiert, nein, den habe sie nie vorher gesehen, aber dann sei wohl alles nach der Ordnung.
Die Sache mit dem jungen Mann im Habit hatte Rosina schon von Wagner gehört. Er hatte sich nach dem vermeintlichen Pastor in Moorfleet
Weitere Kostenlose Bücher