Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
erkundigt, es gab dort nur einen, und der war steinalt. Wagner hatte es hingenommen, und als Rosina amüsiert feststellte, dass er nicht nach den Vorschriften gehandelt habe, hatte er mit den Achseln gezuckt. Immerhin hatte er sich mit seinem großen blauen Tuch ausgiebig Stirn und Nacken gerieben. Wilhelmine Cordes sei nicht verdächtig, hatte er geknurrt, und wenn sie einer so schändlich ums Leben gekommenen Freundin ein anständiges Begräbnis geben wolle, sei er damit einverstanden. Es sei in der Tat nicht ganz korrekt, schade aber niemandem. Und manche, fügte er in geradezu revolutionärer Gesinnung hinzu, manche der Vorschriften seien ein wenig eng und überholt, ja, überholt.
Die Nachbarin hatte noch eine Neuigkeit. Was sie denn zu der verschwundenen Frau von dem Kaufmann sage, Madam Hegolt heiße die. Was? Sie habe noch nicht davon gehört? Die Madam sei in der vergangenen Nacht aus ihrem Haus verschwunden, einfach so, während ihr Gatte auf Reisen war. Davongelaufen, heiße es, das müsse eine leichtfertige Person sein, wenn sie Mann und Kinder einfach so zurücklasse. Und töricht dazu, wenn man das schöne Haus an der Alster bedenke, leider nur gemietet, kann sein, das war ihr nicht genug. Aber man wisse ja nie – es heiße, der Weddemeister sei verständigt. Schrecklich, es werde einfach zu oft gemordet in der Stadt.
Da hatte Rosina einen guten Morgen gewünscht und war davongelaufen.
Wenn Wilhelmine Cordes die Stadt verlassen hatte, mit ihrem Sohn, wenn sie dessen Freiplatz am Johanneum, damit eine vielversprechende Zukunft gefährdete, musste sie einen gewichtigen Grund haben. Zwei ihrer Freundinnen waren tot, wenn sie flüchtete, genauso sah es aus, hatte sie Angst. Wenn sie Angst hatte, wusste sie – oder ahnte sie? –, warum Wanda Bernau und Janne Valentin hatten sterben müssen? Womöglich auch von wessen Hand? Blieb die Frage, warum sie das für sich behielt. Sicher wusste sie auch um die anderen Seltsamkeiten, zum Beispiel wer den Leichnam der ersten Toten mit einer eleganten Kutsche abgeholt hatte. Und warum.
Wenn Rosinas Verdacht stimmte – sie zweifelte nun nicht mehr daran –, war Wilhelmine Cordes mitsamt ihrem Sohn bei Amanda Söder zu Gast. Oder als Dienstbotin, was genauso rätselhaft war, wenn man an ihren Laden dachte. Was verband eine Kleinhändlerin mit der alten, erst kürzlich vom anderen Ende der Welt hierher übergesiedelten Kaufmannswitwe? Womöglich war der Onkel, von dem die Nachbarin gesprochen hatte, kein Onkel, sondern tatsächlich eine Tante? Madam Söder eine Tante von Wilhelmine Cordes oder dessen verstorbenem Mann? Irgendwie passte das gar nicht. Außerdem konnte niemand behaupten, Amanda Söder «liege auf den Tod». Dazu war sie zu schießwütig.
Sie hätte gerne mit Wagner gesprochen, aber wenn sie einfach ins Rathaus spazierte, machte sie ihn lächerlich. Sie hörte es schon: Da kommt diese Komödiantin, die ständig in Wagners Handwerk pfuscht, jetzt macht sie sich schon in seiner Amtsstube breit. Sie musste warten, bis er zu ihr kam, oder ihn anderswo auftreiben. Und dann hatte sie anstatt Madam Augusta Brooks mit der Kutsche getroffen und diese fabelhafte Idee gehabt.
Etliche ihrer fabelhaften Ideen hatten sie in Schwierigkeiten gebracht, in kleine, aber auch in große, sogar in lebensgefährliche. Kein Grund, keine Ideen mehr zu haben. Das Leben war nun mal lebensgefährlich. Selbst wenn man es in einer kommoden Wohnung in der geruhsamen Mattentwiete zubrachte. Immerhin war sie so fürsorglich gewesen, einen Jungen, der vor dem Bauhof mit seiner Flitsche auf die gerade aus dem Süden zurückkehrenden Vögel schoss, dorthin zu schicken. Pauline möge sich nicht sorgen, sie bleibe länger aus und sei erst am späteren Nachmittag zurück. Rosina hatte ihn schwören lassen, seinen Auftrag zu erfüllen, hoffentlich steckte der Lausejunge nicht trotzdem nur den Sechsling in die Tasche und verlustierte sich weiter beim Vogelmord.
An der Wegteilung herumzustehen brachte sie dem Ziel nicht näher, sie lenkte das Pferd in den Weg mit den Kopfweiden und bog am Ende der Schlehenhecke in die Zufahrt ein. Gleich am Beginn des Grundstücks, so erinnerte sie sich, war eine kleine Nische hinter einem Stallgebäude, die vom Haus nicht zu sehen war. Dort konnte sie Pferd und Wagen lassen, und wenn der Fuchs so freundlich war, ausnahmsweise nicht hinter ihr herzuwiehern, konnte sie unbemerkt ums Haus schleichen. Sie konnte sich umsehen und auf Stimmen lauschen, immer
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