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Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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arbeiten. Sie würden sich später, wenn sie auf sich gestellt waren, selbst zu ernähren wissen. Was hingegen Tobias Rapp bei den Vinstedts arbeitete, was er dort lernen konnte, war ihm schleierhaft.
    So oder so – er würde diese kecke Madam im Auge behalten. Natürlich war es Aufgabe der Provisoren, die Koststellen zu kontrollieren, aber die taten nie genug. Monsieur Hegolt, der neue Provisor, schien ein vernünftiger Mann zu sein, auch von der nötigen Ernsthaftigkeit und Strenge, aber als Monsieur Herrmanns, der Großkaufmann vom Neuen Wandrahm, plötzlich in der Diele stand und sich wie ein vertrauter Freund dieses bescheidenen Hauses gebärdete, da war der Provisor … Bevor er entscheiden konnte, was der Revisor dort geworden war – schwach, allzu nachsichtig, vertrauensselig, gar liebedienerisch? –, blieb er abrupt auf dem Treppenabsatz stehen. Als er das Zimmer heute Morgen verlassen hatte, hatte er die Tür fest ins Schloss gezogen und abgeschlossen, das tat er immer. Nun war die Tür zu seiner Schreibstube, dem Hort der Akten, nicht verschlossen, sondern nur angelehnt. Ein dünner Lichtstrahl fiel durch den Türspalt in das schummerige Treppenhaus.
    Ein leises Geräusch ließ plötzlichen Zorn in ihm aufwallen. Ohne einen Gedanken an eine mögliche Bedrohung – manche der älteren Kinder erschienen ihm recht als Schläger – riss er die Tür auf, stürzte in die Schreibstube und prallte gegen einen Mann, der den Raum genauso eilig verlassen wie er hineinwollte.
    «Was tut Ihr hier?», schnauzte Zacher, vor Schreck atemlos, schob die verrutschte Brille an ihren Platz zurück und blinzelte den Eindringling angestrengt an. Es nützte wenig. Er sah ins Gegenlicht, und die Gläser auf seiner Nase waren gut für seine Schreibarbeit, für das weitere Sehen brauchte er andere, die leider vor einem halben Jahr zerbrochen waren. Sein bescheidener Lohn hatte noch nicht erlaubt, neue anzuschaffen. Der Mann war größer als er selbst und hatte lockiges dunkles Haar, im Nacken gefasst, wie es sich gehörte, doch nachlässig frisiert. Das konnte nur Sylvester Steding sein, dazu passte auch der schwarze Samtrock. Niemand im Haus als der neue Präzeptor der Jungen trug an einem ganz normalen Tag einen solchen Rock.
    «Steding? Wie seid Ihr hereingekommen?»
    «Durch die Tür. Wie sonst?» Der Ton klang unbotmäßig und das Gesicht, Zacher konnte es nun erkennen, war unberührt. «Sie war nicht verschlossen», erklärte der Lehrer. «Ich habe gedacht, Ihr habet mein Klopfen nur überhört, und die Klinke heruntergedrückt.»
    «Papperlapapp. Ich schließe immer ab!»
    «Gewiss tut Ihr das, nur heute nicht. Sicher wart Ihr in wichtiger Angelegenheit in großer Eile. Als ich Euch nicht antraf, habe ich mir erlaubt, ein paar Minuten zu warten. Ich dachte, Ihr wäret gewiss gleich zurück. Weil ja nicht abgeschlossen war. Gerade wollte ich gehen, ich muss wieder in den Unterricht. Monsieur Zacher? Ist Euch nicht gut? Ihr solltet Euch besser setzen. Sicher liegt es nur an der steilen Treppe.»
    Zacher starrte den jungen Lehrer immer noch an. Er war ganz sicher gewesen, dass er abgeschlossen hatte, schon weil es der Vorschrift entsprach. Und weil er es immer tat. Aber dieser Mensch, den er bisher nicht als besonders stark empfunden hatte, sprach so ruhig und selbstgewiss – es musste stimmen. Also war es ihm wieder passiert. Er hatte etwas vergessen. Etwas von großer Wichtigkeit.
    Als er Stedings Hand auf seinem Arm fühlte, riss er sich zusammen und schüttelte sie ab.
    «Es geht mir ausgezeichnet», sagte er und hoffte, der andere höre das leichte Zittern seiner Stimme nicht. «Ganz ausgezeichnet. Warum sollte es mir nicht gut gehen? Ich war nur eine Minute fort. Nun ja, einige wenige Minuten. Weil ich aufgehalten wurde.»
    Er drängte sich an Sylvester Steding vorbei, setzte sich auf seinen Stuhl hinter dem Kontortisch und fühlte sich gleich besser. Nun war sein Gesicht im Gegenlicht, das des anderen wurde von der einfallenden Sonne beleuchtet, und hinter diesem Tisch war sein Platz, sein Amt, sein Reich. Die schräge Fläche aus dem vom Alter fast schwarzen Holz fühlte sich unter seinen Händen vertraut an, und sie glich einer schützenden Mauer. Jeder eingesickerte Tintenfleck, jeder Kratzer gehörte zu seiner eigenen Geschichte.
    «Und?», rief er entschieden, als Steding sich zum Gehen wandte und nach der Klinke griff. «Und? Was wolltet Ihr von mir? Wenn Ihr sogar gewartet habt, obwohl Ihr die Klasse zur

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