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Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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einer Wasserburg aus Backstein. Wer sich in den nach Süden gelegenen Räumen aufhielt, konnte sich fühlen wie auf einem der großen Schiffe, die weit über die Ozeane in fremde Welten fuhren und die aus diesem Fenster zu sehen waren. Wohl Tausende der Kinder, die in all den Jahren hier gelebt hatten, hatten sich so aus der Enge und den strikten Regeln des Hauses hinausgeträumt in die Welt, in die Freiheit und das Abenteuer. Gut möglich, dass just dieser Standort Schuld daran trug, wenn immer wieder Kinder entliefen, obwohl man sie kaum mal allein aus dem Haus ließ und doch nur das Beste für sie tat. Für ihren Körper, ihren Geist und ihre unsterbliche Seele.
    Das behauptete jedenfalls beharrlich einer der Ratsherren, der auch sonst dazu neigte, die unter diesem Dach lebenden Kinder für undankbares Gesindel zu halten. Andere empfanden diesen Standort für ein Waisenhaus als reine Verschwendung. Das koste nur und bringe nichts ein als ab und zu eine stille Fürbitte für die Stadtväter, wovon die auch nur nach ihrem Tode profitierten. Der Hafen sei durch den beständig zunehmenden Fernhandel längst zu eng, an ein solches Haus, das auch überall sonst stehen könne, sei dieser Platz verschwendet. Punktum. Über einen Neubau wurde seit etlichen Jahren debattiert, allerdings vor allem wegen der Enge und der drohenden Baufälligkeit. Einige Baumeister, unter ihnen auch George Sonnin, einer der Architekten der Hauptkirche St. Michaelis, hatte Entwürfe vorgelegt, ein Grundstück am Gänsemarkt war schon vorgesehen, aber gut Ding will Weile haben, besonders wenn es teuer wird.
    Zum Glück gab es auch wohlhabende Bürger, die die Unterstützung der bedürftigen Kinder als eine vornehme Aufgabe betrachteten – leider zu wenige. Die Kasse des Hauses war bei allem sparsamen Wirtschaften stets so gut wie leer, immerhin hatten die Kinder noch nie hungern oder barfuß gehen müssen. Somit hatten sie mehr als viele ihrer Altersgenossen in der Stadt.
    Das Haus war vor einem Jahrhundert gebaut worden, nachdem sein Vorgänger begonnen hatte, einzustürzen. Es konnte also kaum zu den wirklich betagten gezählt werden, dennoch war ein neues nicht nur nötig, weil es viel zu klein für die große Zahl der Kinder war, die hier Aufnahme brauchten, auch seine Stabilität war bedenklich. Manche sagten, besorgniserregend. Der alte Schreiber Zacher kannte sich gut in den Annalen des Hauses aus und wusste, dass dieses Gebäude erst errichtet worden war, nachdem in dem älteren Waisenhaus die Decke des Unterrichtsraumes eingestürzt war und einen Knaben erschlagen hatte.
    Als es in diesen alten Balken wieder einmal besonders heftig ächzte und knarrte, hatte sich der Schreiber bei der Hoffnung ertappt, es möge lieber wieder einen der beiden Unterrichtsräume treffen als sein kleines Zimmer. Er hatte sich für den Gedanken geschämt, aber nicht zu sehr. Manche Menschen wurden mit dem Alter milde, von Raimund Zacher konnte das niemand behaupten.
    Er stapfte die Treppe zum Schreibzimmer hinauf, es gehörte zu den nach Süden liegenden und bot den schönsten Blick auf den Hafen. Zacher führte nun schon vier Jahrzehnte die Bücher des Hauses, immer am gleichen Kontortisch, der nie an einen anderen Platz als diesen gerückt worden war. Nach all der Zeit nahm er kaum mehr wahr, wie die Welt hinter diesem Fenster aussah, aber ab und zu, besonders an milden Sommertagen, öffnete er doch die Fensterflügel, ließ den Blick schweifen und atmete tief die nach Hafen riechende Luft. Als pflichtbewusster Mensch erlaubte er sich solche Gefühle selten. Jedenfalls war heute kein solcher Tag.
    Zacher fühlte sich gedemütigt. Wie hatte er so dumm sein können, den neuen Provisor zu Madam Vinstedt zu führen. «Du wolltest angeben, alter Narr», murmelte er, «du hast dich aufgeblasen wie ein Sumpffrosch. Und dabei völlig vergessen, was für Beziehungen diese Tanzmamsell hat.»
    Bei den Vinstedts sah es nur äußerlich aus, als habe alles seine Ordnung. Es ging auch um die Seele der Kinder, um ihre Erziehung zu fleißigem Arbeiten und Gottesfurcht, Respekt vor jeglicher Obrigkeit. Es gab Häuser, da wusste man gleich, dass sie kein idealer Ort für die Erziehung der Kinder waren, aber was sollte man tun? An die achthundert wurden in diesem Jahr auf den Waisenhauslisten geführt, mit dreihundert war es schon bis an die Grenze des Erträglichen besetzt. Wenigstens lernten die Kinder auch in solchen, nun ja, in fragwürdigen Koststellen, tüchtig zu

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