Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Fleisch in den Mund schob.
Der Gehilfe, Baldur, war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, unauffälliger Gestalt, weder schön noch hässlich, stets bleich und von sanftem, ja, ängstlichem Gemüt, also ein Mensch wie geschaffen zum Adlatus auf Lebenszeit. Er war noch damit beschäftigt gewesen, den Untersuchungsraum zu säubern und die Leiche in der besonders kühlen Abseite gut abzudecken und auch darüber nachzudenken, wie angenehm es doch sei, wenn unbekannte Tote im Winter gefunden wurden. Im Sommer, besonders in den heißen Hochsommerwochen, war es äußerst unangenehm, zu warten, ob sich jemand finde, sie zu benennen oder gar Anspruch auf sie zu erheben und das Begräbnis zu bezahlen, bevor die Leiche als Unbekannte der Erde des Armenfriedhofs übergeben werden konnte.
Asche zu Asche, Staub zu Staub – das war eine segensreiche Sitte, eine saubere und eindeutige Angelegenheit. Ein Seemann, der um die ganze Welt gefahren war – jedenfalls behauptete er das, und weil er ein Cousin dritten Grades war, vertraute Baldur seinen Worten –, dieser Seemann also hatte erzählt, es gebe ferne Länder, in denen die Toten verbrannt werden. Im ersten Moment war ihm das als eine abscheuliche Unsitte erschienen, bei längerem Nachdenken hatte er seine Meinung geändert. Einmal verbrannt, konnte man wenigstens nicht scheintot, also tatsächlich ganz und gar lebendig begraben werden, nur um jämmerlich im Sarg zu ersticken. Eine Vorstellung, die ihn so manche Nacht voller Entsetzen aufschrecken ließ. Andererseits – scheintot dem Feuer übergeben werden? Auch der Gedanke ließ ihn kaum besser schlafen.
Bei dieser Toten, die aus dem Eis geborgen worden war und nun im winterkalten Keller auf ihr Erdengrab wartete, gab es keinen Zweifel, ob sie je wieder erwachen werde, außer natürlich im Himmel. Oder in der Hölle, je nachdem, wohin die himmlischen Heerscharen ihre unsterbliche Seele führen mochten.
Der Physikus war nicht bereit, seine Mahlzeit zu unterbrechen, er verabscheute den Geschmack kalt gewordenen Hammelbratens. Nachdem Baldur ihm versichert hatte, es handele sich keinesfalls um hochstehende Personen, er sei da sehr sicher, hatte er ihm aufgetragen, die Zeugen zur Leiche zu führen und genau zu notieren, was sie auszusagen hatten. Im Übrigen sei dies nun Angelegenheit des Weddemeisters, den könne er holen oder das Nötigste notieren und ihm später mitteilen. Baldur entschied sich sofort für Letzteres. Es war zu kalt im Souterrain, als dass er die beiden ohnedies kränklich wirkenden Alten noch länger warten lassen wollte. Zudem war der Weddemeister ein viel beschäftigter Mann, woher sollte er wissen, wo der sich gerade herumtrieb?
Mette und Eustach Lindbeck waren Bruder und Schwester, beide hager und ärmlich gekleidet, die Gesichter zerknittert, die Haare grau wie Schieferstaub. Sie beugten sich bekümmert, doch ohne Scheu über die Leiche, als seien Ertrunkene oder sonst wie zu Tode Gekommene für sie alltäglich, was bei so kärglich lebenden Alten wie ihnen vielleicht nicht ganz verkehrt war. Mette sah ihren Bruder an und murmelte etwas, der nickte und murmelte auch etwas, dann blickten sie den Gehilfen des Physikus an und seufzten tief, zugleich, wie aus einer Kehle.
«Das ist sie», sagte Eustach, und Mette nickte dazu, «das arme gute Mädchen. Seltsam sieht sie jetzt aus, wirklich seltsam, was, Mette? Aber das ist sie, da gibt’s kein’ Zweifel. Und wir dachten, sie ist anderswo und im Glück.»
«Wobei keiner weiß», unterbrach ihn seine Schwester mit zaghaft, doch hoffnungsvoll nach oben weisenden Zeigefinger, «ob es nicht so ist. Kann gut sein. Gut sein, ja.»
Wegen des Namens der Toten waren die beiden nicht einig. «Hanna», erklärte Mette, doch ihr Bruder schüttelte den Kopf. «Neinneinnein», widersprach er, «nur so ähnlich, nämlich Wanda.»
Seine Schwester, flüsterte er Baldur zu, als die sich noch einmal mit wachsamen Augen über die Tote beugte und insbesondere den Hals betrachtete, seine arme alte Schwester höre schlecht und verwechsle so manches, was sie aber niemals zugebe. Der Name sei Wanda, das sei absolut richtig.
«Mit Namen ist das so ’ne Sache», fuhr er laut genug fort, dass auch seine Schwester ihn wieder verstand, was sie umgehend mit eifrigem Nicken bewies. «Die vergessen sich, die gehn verlor’n wie Reiskörner. Wir haben sie immer Jungfer genannt, das gefiel ihr. Den Familiennamen kennt man bei den Paulis, die wohnen in einem der großen
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