Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
und dann plötzlich so ein Aufwand? Dazu verschleiert und vor allem – warum heimlich? Ohne den Pastor ihres Kirchspiels? Nein», Wagner wippte einmal auf die Zehenspitzen wie immer, wenn etwas sehr ernst und streng zu beurteilen war, «nein, die Leiche ist entführt worden. Fragt sich nur – wozu?»
«Ja, und wohin? Und vor allem: von wem? Moment! Hat die verschleierte Dame nicht irgendetwas von der Torsperre gesagt? Das klingt, als wären sie mit ihrer Kutsche und mitsamt dem Sarg durch eines der Tore aus der Stadt gefahren. Dann muss man nur die Torwächter fragen, die gestern zur Zeit des Toresschlusses Dienst hatten. Eine Kutsche mit Sarg – ich bitte Euch, Wagner, das vergisst keiner.»
«Eine wirklich vortreffliche Idee, ja, wirklich. Ich hatte sie auch schon, Grabbe hat alle befragt, leider erinnert sich keiner der Männer von den Torwachen.»
«Gar keiner?»
«Absolut keiner.»
«Dann haben sie die innere Stadt nicht verlassen. Oder gut bezahlt.»
Wagner nickte mit düsterem Blick. Dass sich Torwachen bestechen ließen und es ihm noch nie, nicht ein einziges Mal gelungen war, wenigstens einen dieser käuflichen Kerle zu überführen, machte ihn immer wieder aufs Neue wütend.
Rosina dachte noch über etwas anderes nach. «Der Knecht im Eimbeck’schen Haus hat gesagt, der Sarg sei aus gutem Holz gewesen? Ist er sicher?»
«Er hat sogar gesagt, aus gutem poliertem Holz.»
«So ein Sarg ist teuer.»
«Sehr teuer.»
Beide schwiegen und dachten dasselbe: Wem konnte Wanda Bernaus Leichnam so lieb und wert sein, um ihn mehr oder weniger zu entführen, und dazu in einem so noblen Sarg?
«Fast hätte ich es vergessen», murmelte Wagner, als sie das Theater endlich verlassen hatten und Rosina sich mit klammen Fingern mühte, den großen Schlüssel in dem rostenden Vorhängeschloss zu drehen. Er zog ein buntes Etwas von der Größe und Form eines leicht plattgedrückten Eis einer Drossel aus der Tasche und zeigte es Rosina auf der ausgestreckten Handfläche. «Das muss bei der Toten gewesen sein. Ihre Kleider hat die Fremde mitgenommen, alle, bis zu dem Schnupftuch, das in ihrer Rocktasche gesteckt hatte. Darauf hat sie bestanden. Aber dieser Stein – ein wirklich hübsches Ding, das muss ich sagen, ja, wirklich hübsch. Bemalt? Oder?»
Rosina nahm es mit spitzen Fingern von Wagners Hand, besah es von allen Seiten und hielt es ins Licht. «Kein Stein, ich dachte es schon. Das ist Glas, von verschiedener Farbe und kunstvoll ineinander verschmolzen. Schillernd wie eine Pfauenfeder.» Sie drehte und wendete das bunte kleine Ding und gab es Wagner schließlich zurück. «Es hat kein erkennbares Muster, oder seht Ihr eins? Es ist wohl doch nicht so kunstvoll, eher ein Probestück aus einer Glasbläserei. Oder der Versuch eines Lehrlings? Ich kenne mich mit der Glasbläserei, überhaupt mit Gläsern nicht im Geringsten aus.»
«Wozu könnte es nützlich sein?»
«Ihr denkt zu vernünftig, Wagner», stellte Rosina lachend fest. «Es sieht nicht nach etwas Nützlichem aus, selbst für einen Briefbeschwerer ist es zu klein und leicht. Na gut, für einen Bogen mag es angehen. Ich denke, es ist einfach nur hübsch, das ist Nutzen genug. Egal, was es bedeutet oder nicht bedeutet, interessanter finde ich, woher sie es hatte. Ihr seid sicher, dass es in ihrer Kleidung gesteckt hat?»
Wagner nickte. «Soweit ich sicher sein kann, wenn ich es nicht selbst herausgezogen habe. Der Knecht im Anatomischen Theater hat es gefunden, nachdem diese seltsamen Fremden mit der Leiche fort waren und er sich ans Aufräumen machte. Es lag unter dem Schemel, auf dem die Kleider gelegen hatten. Es muss herausgefallen sein, dabei war ich sicher, dass wir alles durchsucht hatten. Er wiederum beteuert, vorher habe da nichts gelegen, also bevor die Leiche aus der Alster gebracht wurde. Es kann nur von dieser Toten sein. Jemand wird es ihr geschenkt haben, oder was denkt Ihr?»
«Wahrscheinlich. Es sieht nicht furchtbar wertvoll aus, aber doch zu teuer, um es vom Dienstmädchenlohn zu kaufen. Es sei denn …» Rosina dachte flüchtig an die samtbezogene Spanschachtel in ihrer Truhe, in der sie Erinnerungen ganz ähnlicher, ebenso «unnützer» Art an ihre Mutter verwahrte und als unersetzliche Kostbarkeiten über all die Jahre gehütet hatte. «Es sei denn, es ist eine Erinnerung an frühere Zeiten, an jemand aus ihrer Familie. Ein geschenktes oder geerbtes Andenken.»
«Sie hat doch keine Familie», wandte Wagner ein, «das sagen
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