Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
jedenfalls die Paulis.»
«Aber sie muss eine gehabt haben, eine Frau hat sie geboren, also hatte sie zumindest eine Mutter. Wenn sie heute niemand mehr hat, werden solche Dinge doch umso wertvoller. Vielleicht kennen es die Paulis und wissen, woher oder von wem sie es hatte.»
Wagner nickte gedankenverloren, schob den Glasstein wieder in seine Jackentasche und drückte sich den Hut fester auf den Kopf. Ihn fror, er sehnte sich nach einer heißen Suppe. Oder nach einem dampfenden Becher Punsch. Womöglich beflügelte schon der Gedanke an die so delikaten wie wärmenden Freuden seinen Geist, jedenfalls fiel es ihm plötzlich und mit ungewohnter Klarheit und Sicherheit ein.
«Venedig», sagte er. «Natürlich, Venedig! Der Stein, pardon, das Glas, oder wie Ihr das Ding nennen wollt, ist aus Venedig.»
Rosina schob die kalten Hände tief in ihren Muff aus dickem weißem Kaninchenfell und hob steif die Schultern. Venedig war kein Ort, an den sie heute gern dachte. «Ihr meint, weil es auf der Insel in der Lagune dort die berühmten Glasbläsereien gibt? Es gibt auch anderswo Glasbläsereien, zum Beispiel hier in der Stadt oder nicht weit vor den Toren. Und die meisten besseren Gläser kommen aus Böhmen, auch aus Frankreich, sogar aus England. Aber sicher, warum nicht Venedig?»
Wagner spürte Ärger aufsteigen, gewöhnlich geschah das, wenn sich Rosina in einer Weise in seine Arbeit einmischte, die ihm nicht behagte oder für sie gefährlich schien. Nun geschah es, weil sie sich zu wenig einmischte, als interessiere sie die ganze Angelegenheit nicht.
«Venedig, versteht doch! Es heißt, die Tote habe eine Liebschaft mit dem Schreiber gehabt, natürlich nicht als Tote, das versteht sich von selbst, als sie noch lebte, die Tote, ja, mit dem Schreiber. Als sie verschwand, haben alle gedacht, sie ist ihm nachgereist, oder er hat sie geholt oder holen lassen, was weiß ich? Das ist ja auch unwahrscheinlich, denn da war dieser Kerl, jetzt ist mir doch tatsächlich der Name entfallen … ja, da war er längst fort, und es war eiskalter Winter, da reist man doch nicht einfach einer Liebschaft nach, und man verschwindet auch nicht mitten in einer so eiskalten Nacht, wenn die Tore längst geschlossen sind, wenn keine Kutsche geht, vor allem, wenn man eine ist, die sich eine Kutsche ohnedies nicht erlauben kann, auch keine von der Post, die kaum gefedert ist, immer zu voll und überhaupt nach einer Stunde die reinste Folter. Zumal ohne wärmende Pelze, die nicht jede Bürgerfrau und ganz gewiss keine Dienstmagd besitzt.»
Rosina blickte den Weddemeister, in diesem Moment mehr ihren alten Freund Wagner, verdutzt an. Der atmete schwer, kleine Dampfwölkchen standen vor seinem Mund, seine für gewöhnlich Trägheit vortäuschenden Augen blitzten. «Ihr seid wütend, Wagner. Warum, um Himmels willen, macht Euch ein hübsches Glas aus Venedig so wütend? Viele Mädchen mögen solche Geschenke besitzen.»
«Nicht das Glas», stieß er immer noch erregt, aber schon weder versöhnlicher hervor, «das ist nur Papperlapapp, wie Madam Augusta sagen würde. Aber in dieser ganzen Geschichte passt nichts zusammen, es scheint auch niemanden zu interessieren, dafür wird mir aber zu viel gelogen. Zu viel, ja. Und Liebschaft? Das ist mir zu billig. Bei Mägden und Dienstmädchen fällt immer allen zuerst eine Liebschaft ein. Als hätten die Damen aus gutem Haus, aus der oberen Etage sozusagen, keine Liebschaften. Bleiben wir bei dem hübsch nutzlosen Glas, ganz wie es beliebt. Venedig, sage ich, ein ganz ähnliches habe ich nämlich bei einer der Stiftsdamen im Johanniskloster gesehen. Natürlich sind das nur Kinkerlitzchen. Ich fand das Ding trotzdem hübsch, zum Beispiel als Geschenk für Karla. Aber leider unerschwinglich, ja, leider. Mir wurde nämlich versichert, es sei von dort, von dieser Insel Mo-, Mo-Dingsbums. Dann ist es aber unwahrscheinlich, dass der Schreiber der Paulis – verdammt, wie heißt der Kerl bloß? – es ihr geschenkt hat, der war nämlich nie zuvor in Italien, das hat Monsieur Pauli erwähnt, es ist seine erste Reise nach den Ländern südlich der Alpen. Und jetzt, verehrte Madam Vinstedt», versetzte er, «möchte ich erfahren, was Ihr wisst. Magnus ist nach Italien gereist, im Auftrag der Commerzdeputation, heißt es, und mehr weiß angeblich niemand. Das ist auch Papperlapapp. Tatsächlich ist er dem Schreiber der Paulis auf den Fersen, angeblich wegen einer großen Summe Geldes. Ich bin sicher, Ihr wisst
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