Die Schwestern von Rose Cottage: Ashley (German Edition)
hätte erkennen müssen, was für ein Mensch er ist. Er wäre längst hinter Schloss und Riegel, wenn ich ihn nicht so leidenschaftlich verteidigt hätte.“
„War die Beweislage eindeutig?“
„Nein“, gab sie zu. „Die Spurensicherung muss schlampig gearbeitet haben.“
„Kannst du dir denn vorwerfen, etwas Unethisches getan zu haben?“
„Nein.“
„Hast du treu nach dem Gesetz gehandelt?“
„Natürlich.“
„Dann war es nicht dein Fehler“, wiederholte er. „Erinnere dich daran, dass unser Justizsystem dergestalt aufgebaut ist, dass der Angeklagte so lange unschuldig ist, bis man ihm sein Vergehen beweisen kann. Offensichtlich ist das hier nicht geschehen.“
„Aber es ist keine Gerechtigkeit erfolgt“, beharrte sie. „Noch nicht mal annähernd. Ich habe den Ruf, meine Fälle sehr sorgfältig auszuwählen. Bei diesem habe ich jämmerlich versagt.“
Josh konnte ihr da nicht widersprechen. Ein Anwalt sollte die Fähigkeit besitzen, seine Klienten zu durchschauen, aber das gelang eben nicht immer. Diese Erfahrung hatte er schon selbst machen müssen, wenn auch nicht in einem so spektakulären Fall wie bei ihr.
„Das tut mir sehr leid“, erklärte er. „Ich ahne, wie sehr dich dieser Fall belasten muss. Natürlich hilft es dir nicht, wenn ich dir sage, dass dich keine Schuld trifft. Du musst das allein einsehen.“
„Ich weiß nicht, ob mir das jemals gelingen wird.“ Sie warf einen Blick auf den Artikel. „Besonders jetzt, da ich wohl nie wieder in Boston praktizieren kann.“
„Natürlich kannst du das“, widersprach er. „Es gibt so viele ehrliche Menschen, die zu Unrecht angeklagt werden und die einen Anwalt brauchen, der sie mit Können und Hingabe verteidigt. Die brauchen deine Hilfe.“
Ashley sah ihn traurig an. „Aber verstehst du denn nicht, Josh? Ich kann den Unterschied nicht erkennen.“
„Natürlich kannst du das“, versicherte er ihr. „Du hast nur einen Fehler gemacht. Das bedeutet nicht, dass du generell unfähig bist.“
„Ein Mensch ist meinetwegen fast gestorben“, erinnerte sie ihn aufgebracht. „Wenn die Polizei nicht so schnell gekommen wäre, dann …“ Sie erschauerte bei dem Gedanken. „Ich bin genauso schuldig wie Tiny Slocum.“
„Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlen musst, aber du wirst es bald wieder anders sehen können“, tröstete er sie, obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob er recht hatte. Ashley besaß ein Gewissen, das nicht mit irgendwelchen Floskeln beruhigt werden konnte. Ihre Einstellung zur Justiz würde sich nach diesem Ereignis unweigerlich ändern, ebenso wie das Bild, das sie bisher von sich gehabt hatte.
Er seufzte und wusste, dass es nichts gab, womit er ihr die Last ein wenig mindern konnte.
6. KAPITEL
D u kannst jetzt gehen“, meinte Ashley trocken, nachdem Josh das Abendessen zubereitet hatte und ihr dann geduldig, aber unnachgiebig gegenübersaß und abwartete, bis sie auch den letzten Bissen gegessen hatte. Seine Gegenwart, so unaufdringlich sie auch war, machte sie nervös. Früher oder später würde er darauf bestehen, über Tiny Slocum zu reden.
Im Moment lächelte er allerdings nur. „Hast du etwa vor, mich rauszuwerfen, bevor du deine Erbsen aufgegessen hast?“
„Du hast mich erwischt“, gab sie zu und versuchte, auf seinen leichten Ton einzugehen. „Ich hasse Erbsen.“
Er sah sie erstaunt an. „Warum stehen dann sechs Dosen davon im Schrank?“
„Weil Melanie hier gewohnt hat. Sie liebt Erbsen und konnte wohl nicht genug davon vorrätig haben.“ Ashley lächelte halbherzig. „Maggie würde sie auch nicht anrühren. Vielleicht sollte ich die Dosen als Geschenk einpacken und sie Melanie zu Weihnachten schenken.“
In ihrer Stimme schwang eine leichte Verzweiflung mit, als ihr klar wurde, dass sie zu Weihnachten vielleicht noch immer hier in Irvington sein könnte. Jetzt, da ihr strahlender Ruf als Engel der Unschuldigen dahin war, könnte ihr dreiwöchiger Urlaub sich leicht in Monate der Arbeitslosigkeit und Unentschiedenheit verwandeln.
Angesichts dieser drohenden Gefahr war es bemerkenswert, dass sie überhaupt noch Witze machen konnte. Seit sie den Artikel in der Zeitung gelesen hatte, kam sie sich vor wie ein Luftballon, aus dem langsam, aber sicher die Luft entwich. Während des Abendessens hatte sie nicht mehr als zehn Worte gesagt. Es war kein Wunder, dass Josh so hartnäckig darauf bestand, noch bei ihr zu bleiben. Er machte sich sicherlich Sorgen um sie, obwohl er
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