Die Schwestern von Sherwood: Roman
versucht, und Ned hatte ihm wahrscheinlich geholfen, Zugang zu ihrem Zimmer zu bekommen. Sie spürte, wie ein ohnmächtiges Gefühl in ihr hochstieg.
78
H enry Tennyson hatte sich zu der alten Dame gebeugt und bemühte sich, seinen Zorn zu zügeln. »Wie konnte sie in den Besitz dieser Briefe und Zeichnungen kommen?«
Emily Barrington blickte ihn müde an. »Sie stehen ihr zu. Das weißt du selbst«, sagte sie zwischen zwei angestrengten Atemzügen.
»Wer sagt das? Du? Du weißt ja nicht mehr, was du da redest! Wir hätten dich schon längst entmündigen lassen sollen.«
Sie wies auf die Sauerstoffflasche. »Ich fürchte, diese Mühe wirst du dir nicht mehr zu machen brauchen.«
»Nun, dafür hat es schließlich noch gereicht!«, stieß er beißend hervor.
»Henry!«, ermahnte ihn eine Stimme. Es war seine Schwester Charlotte, die hinter ihnen in den Raum getreten war. »Das führt doch zu nichts.«
Doch dieses Mal ließ er nicht von Emily ab. »Du wirst mir antworten«, sagte er, zu der alten Dame gewandt. »Ich will wissen, wie sie zu diesen Bildern und den Briefen gekommen ist. Hat dieser Anwalt sie ihr gegeben? Was hat er ihr erzählt?«
Er sah die Furcht in dem Gesicht der alten Frau. Sie war ihnen ausgeliefert, das wusste sie, doch er verspürte kein Mitleid mit ihr. Sie hatte sie an der Nase herumgeführt und gewagt, seine Rolle als Familienoberhaupt infrage zu stellen.
»Nichts!«, stieß sie hervor. »Ich habe ihn damals gebeten, aus Berlin zurückzukommen. Er hat ihr nur die Bilder und Briefe geschickt – anonym in einem Paket. Ich wollte, dass sie sie bekommt!«
Henry starrte sie an. »Ich glaube dir nicht. Wenn sie nicht weiß, warum sie die Bilder und Briefe bekommen hat, warum sollte sie dann hier auftauchen?«
»Das ist mir selbst nicht klar«, erwiderte Lady Barrington, deren verwunderter Tonfall verriet, dass sie die Wahrheit sprach.
»Woher weißt du eigentlich, dass sie im Besitz der Bilder und Zeichnungen ist?«, fragte sie dann.
Ihr Neffe blieb ihr eine Antwort schuldig. »Du wirst nicht mehr mit diesem Anwalt sprechen, ohne dass einer von uns beiden dabei ist«, sagte er schließlich, bevor er aufstand und das Zimmer verließ.
Seine Schwester folgte ihm. »Meinst du, dass diese Melinda Leewald es weiß?«
Henry schüttelte den Kopf. »Nein, aber sie ahnt etwas. Ich habe Unterlagen bei ihr gesehen. Sie nimmt in London an einer Fortbildung für deutsche Journalisten teil.«
Charlotte blickte ihn beunruhigt an. »Sie ist Journalistin?«
Henry nickte grimmig. »Wir müssen verhindern, dass sie ihre Nachforschungen fortsetzt. Anscheinend hat die kleine Warnung nicht ausgereicht!«
79
D as Glas glänzte bereits so sehr, dass man sich darin hätte spiegeln können, doch Amy polierte es mit verbissener Miene weiter.
Melinda unterdrückte ein Seufzen. »Es liegt mir wirklich fern, Sie in Schwierigkeiten zu bringen, Amy. Ich möchte ja nur verstehen, warum Sie gestern so reagiert haben«, erklärte sie zum dritten Mal. Nicht willens, die Dinge auf sich beruhen zu lassen, war Melinda nach dem Einbruch ins Oak Inn gegangen, um noch einmal mit der Bedienung zu reden.
Amy ließ Tuch und Glas für einen Augenblick sinken.
»Das können Sie nicht verstehen. Diese Leute haben hier seit Jahrhunderten die Macht und das Geld. Ich will einfach keinen Ärger mit den Tennysons. Mein Mann arbeitet bei ihnen.«
»Aber was kann Mr Tennyson denn dagegen haben, dass wir über diese alten Geschichten reden?«, insistierte Melinda, die noch immer nicht verstand, dass dieser so überzogen auf ihre Fragen reagiert und sie bedroht hatte.
»Keine Ahnung!« Amys Miene ließ erkennen, dass sie die Beweggründe dafür genauso wenig verstand wie Melinda. »Aber Ned und auch mein Mann haben gesagt, ich soll mich zurückhalten, also tue ich’s auch.«
Melinda schwieg. «Was hat Ihr Cousin Ned eigentlich gegen mich?«
»Na ja, er hat es nicht so mit den Deutschen«, erwiderte Amy, während sie das nächste Glas nahm. »Sein Bruder ist in den letzten Kriegstagen gefallen. Als schon längst klar war, dass die Deutschen keine Chance mehr hatten und sie trotzdem nicht kapitulieren wollten. Das kann er ihnen bis heute nicht verzeihen.«
Melinda unterdrückte ein Seufzen und musste zugeben, dass dies Neds Ablehnung zumindest etwas erklärte.
»Wissen Sie«, setzte Amy erneut an, »diese Geschichte mit den Sherwood-Schwestern ist keine der üblichen Legenden und Erzählungen. Sie hat wirklich
Weitere Kostenlose Bücher