Die Schwestern von Sherwood: Roman
»Hier ist nämlich heute Morgen von oberster Stelle eine Beschwerde über Sie eingegangen.«
Melinda starrte ihn entgeistert an. »Eine Beschwerde? Über mich?«
Er nickte. »Ja. Sie sollen unbefugt auf fremden Grund und Boden, bei den Hamptons, eingedrungen sein und sich in einem Pub namens Oak Inn wiederholt wie eine Nazi-Sympathisantin aufgeführt und dementsprechende Äußerungen gemacht haben!« Seine Brauen hatten sich nach oben gezogen.
»Was?« Der Ausruf war Melinda so laut herausgerutscht, dass sich einige der anderen Kantinenbesucher überrascht nach ihr umdrehten. Sie stellte ihren Becher ab, in dem der Tee gefährlich schwappte.
Johnson schaute sie nachdenklich an. »Ich habe natürlich erklärt, dass ich das für reinen Unsinn halte und eher annehme, dass jemandem im Dartmoor Ihre Recherchen nicht gefallen. Es war gut, dass Sie mir von Ihren Nachforschungen erzählt hatten«, fügte er hinzu.
Melinda rang noch immer um Fassung. »Ich kann nicht glauben, dass Tennyson das getan hat!«, stieß sie hervor.
»Nun, wie es scheint, ist dem Herrn eine Menge daran gelegen, dass man Sie so schnell wie möglich wieder nach Berlin zurückschickt. Ich habe keine Ahnung, in was Sie da hineingestochen haben, aber es sieht so aus, als wenn es um mehr als nur ein bisschen Familiengeschichte ginge …« Er zog die Mappe zu sich und blätterte darin.
»Wussten Sie, dass 1897 ein Journalist umgekommen ist, kurz nachdem er zwei Berichte über die Todesfälle der beiden Schwestern veröffentlicht hat? Hier, das sind die Artikel, die er geschrieben hatte.« Er schob ihr die Mappe wieder zu. Schon nach wenigen Zeilen erkannte Melinda, dass es die Berichte waren, die sie auch aus der Akte von Clifford entwendet hatte.
»Die Artikel kenne ich«, sagte sie nachdenklich. »Sie sind von einem Barry Sandfort. Er zieht nicht nur in Zweifel, dass meine Großmutter im Moor umgekommen ist, sondern hat auch Verdächtigungen gegen Lord Hampton erhoben. Er ist umgekommen, sagen Sie?«
Johnson nickte. »Auf ziemlich mysteriöse Weise sogar. Er ist an der Ostküste Englands von den Klippen gestürzt.«
»Mein Gott!«
»Ich habe es nur durch einen Zufall herausbekommen«, berichtete Johnson. »Das Archiv hatte mir einen Artikel mitgeschickt, weil der Name Hampton darin auch erwähnt wird. Und nun kommt der wirklich überraschende Teil – Edward Hampton wurde wohl zumindest kurzfristig verdächtigt, etwas mit dem Tod dieses Journalisten zu tun zu haben.« Er blätterte in der Mappe bis zur letzten Seite vor.
»Hier, lesen Sie mal!«
Das Gericht in London bestätigte heute, dass der Journalist Barry Sandfort bei einem Sturz von den Klippen an der Ostküste unweit von Dover am 10. Mai dieses Jahres eines natürlichen Todes starb. An dem Leichnam hätten keinerlei Anzeichen von Gewalteinwirkung festgestellt werden können. Mit dieser offiziellen Erklärung wird auch Lord Hampton von jedem Verdacht, in irgendeiner Weise in die Todesumstände des Journalisten verwickelt zu sein, freigesprochen.
Melindas Gedanken überschlugen sich, als sie erfasste, was die Zeilen vor ihr bedeuteten. »Barry Sandfort ist im Mai 1897 umgekommen? Das war eine knappe Woche, nachdem sein zweiter Artikel über die Sherwood-Schwestern erschienen ist!«
Johnson nickte mit dem Gesichtsausdruck eines Sherlock Holmes. »Ein seltsamer Zufall, nicht wahr?«
Melinda blickte ihn grübelnd an. »Vielleicht hat Lord Hampton tatsächlich etwas damit zu tun gehabt! Um jemanden von den Klippen zu stürzen, bedarf es nicht unbedingt großer Gewalteinwirkung, oder?«, überlegte sie laut. War Tennyson vielleicht auch deshalb so bemüht, ihre Nachforschungen zu unterbinden, weil er vermeiden wollte, dass diese alten Verdächtigungen den Ruf seiner Familie beschädigten? Niemals hätte sie gedacht, dass sich ihre Recherchen zur Familiengeschichte zu einem derartigen Kriminalfall entwickeln würden.
»Möglich wäre es«, gab Johnson zu.
Melinda blickte ihn entschlossen an. »Ich werde versuchen herauszubekommen, ob Sandfort eine Frau oder Kinder gehabt hat. Möglicherweise gibt es noch irgendjemanden, der weiß, woran er in den Tagen vor seinem Tod gearbeitet hat.«
»Tun Sie das. Nichts anderes habe ich von Ihnen erwartet«, erwiderte Johnson mit einem breiten Lächeln.
96
G eorge Clifford starrte auf die Akte, die geöffnet vor ihm auf seinem Schreibtisch lag. Die Papiere darin waren durcheinander, das Foto lag quer – und die zwei Artikel fehlten. Es gab
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