Die Schwestern von Sherwood: Roman
Gedanke kam ihr. War George ihr vielleicht gar nicht zufällig bei dem Überfall zu Hilfe gekommen? War das alles geplant gewesen? Nein, das traute sie ihm nicht zu. Er hatte besorgt gewirkt, und er hatte sie geküsst … Aber plötzlich war sie sich nicht mehr sicher. Vielleicht war sie nur nicht bereit, der Wahrheit ins Auge zu sehen, weil sie sich mehr zu diesem Mann hingezogen fühlte, als sie wollte und es ihr guttat?
Der Bus hatte Exeter erreicht und hielt am Bahnhof. Melinda stieg aus und bahnte sich durch die Menschen in der Halle einen Weg zu den Gleisen, wo bereits ihr Zug stand. Als sie sich wenig später in den Sitz ihres Abteils sinken ließ, kreisten die Fragen von Neuem durch ihren Kopf. Sie verstand einfach nicht, warum George Clifford eine Akte über sie angelegt hatte. Alles sprach dafür, dass er die Erkundigungen über sie für Tennyson eingezogen hatte. Aber weshalb sollte dieser Mann ein solches Interesse an ihrer Person haben, dass er dafür sogar jemanden nach Berlin schickte? Nur weil ihr vielleicht ein Anteil von Sherwood zustand?
Dann dachte sie jedoch wieder an das Paket. Hatte Tennyson verhindern wollte, dass sie es bekam? Immerhin hatte sein Inhalt sie erst auf die Spur von allem gebracht. War George deshalb nach Berlin gekommen? Melinda überlief ein leichter Schauer bei dem Gedanken.
Es musste mehr dahinterstecken, dachte sie dann. Noch immer schien es ihr, als fehlte ihr ein entscheidendes Puzzleteil, um die Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ganz zu verstehen – und vor allem die Rolle, die sie selbst dabei einnahm. Als wäre sie die Figur in einem Spiel, dessen Regeln und Ziel sie als Einzige nicht kannte!
Und der Schlüssel zu allem lag in den Jahren 1895 und 1896. Weshalb hatte ihre Großmutter einen anderen Namen angenommen und so endgültig mit ihrem bisherigen Leben gebrochen, dass sie sogar die Behauptung ihres eigenen Todes in Kauf genommen hatte? Hatte sie es für ihr Kind getan? Wovor war ihre Großmutter nur geflohen?
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M elinda war froh, nach London zurückzukehren. Die Arbeit an ihren Artikeln und die Fortbildung ließen sie innerlich etwas zur Ruhe kommen. Sie freute sich, Emil und die anderen Kollegen wiederzusehen. Es tat gut, sich in den Pausen an den Gesprächen zu beteiligen, die sich zwischen den Journalisten in diesen Tagen vor allem um die aktuelle politische Lage in Berlin drehten. Die Situation zwischen den westlichen Alliierten und den Sowjets wurde dort immer angespannter. Sie alle waren beunruhigt, was sie bei ihrer Rückkehr in Berlin erwarten würde.
Der Montagvormittag verging schnell. Vorträge eines französischen und amerikanischen Journalisten, die über das Pressesystem in ihren Heimatländern berichteten, standen auf dem Programm. In der Mittagspause wurde Melinda jedoch überraschend von Andrew Johnson abgefangen.
»Kommen Sie, lassen Sie uns einen Tee zusammen trinken. Ich habe die Ergebnisse aus den Archiven!« Er schwenkte eine Mappe in seinen Händen.
»Ziemlich interessant. Ich habe mir erlaubt, den einen oder anderen Blick in einige Artikel zu werfen!«, sagte Johnson, als sie an einem der Tische in der Kantine Platz genommen hatten.
Melinda schlug neugierig die Mappe auf. Die Artikel stammten vorwiegend aus den Jahren 1895 bis 1897. Es ging darin vor allem um die Verlobung und Hochzeit von Cathleen Sherwood und Edward Hampton und die Todesfälle der beiden Schwestern. Auch der ungewöhnliche Aufstieg der Sherwoods war in einigen Berichten ein Thema. Zu ihrer Überraschung erfuhr Melinda, dass ihre Urgroßmutter Elisabeth Sherwood aus Deutschland kam.
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte sie, als sie aufblickte.
Andrew Johnson musterte sie. »Vielleicht, indem Sie mir von Ihrem Wochenende erzählen. Sie sehen etwas mitgenommen aus, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben. Ich hoffe doch sehr, dass diese Blessur in Ihrem Gesicht nicht in Zusammenhang mit Ihren Recherchen steht?« Er zog die Brauen hoch.
Melindas Finger glitten zu der Schürfwunde, die sie beinahe vergessen hatte. Sie stieß ein Seufzen aus und verspürte plötzlich das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. »Leider doch.« In kurzen Sätzen erzählte sie, was am Wochenende geschehen war und dass sie dank Mrs Finkenstein inzwischen herausgefunden hatte, wer ihre Großmutter wirklich gewesen war.
»Nun, das erklärt eine Menge!«, stellte Johnson fest, als er von Tennysons Versuchen erfuhr, sie einzuschüchtern.
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