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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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Wie heißt du?
    Amalia. Sie buchstabierte ihren Namen, ohne dass sie darüber nachdachte, mit dem Fingeralphabet.
    Ein leichtes Lächeln glitt über sein Gesicht, doch dann wurde er ernst. Er wies mit der Hand in die Richtung, in die Mr Beans entschwunden war, und machte einige weitere Zeichen, die sich fließend vor ihren Augen miteinander verbanden. Nimm dich vor ihm in Acht. Er ist gefährlich!
    Amalia nickte matt. Als hätte ausgerechnet sie diesen Hinweis gebraucht! Ich weiß.
    Er musterte sie erneut prüfend, bevor er schließlich weiterging. Erst später, als sie schon wieder in ihrem Zimmer war, ging ihr auf, dass Gordon sich trotz des Verbots in der Gebärdensprache mit ihr verständigt hatte.
    Von nun an fiel er ihr auf. Sein gezeichnetes Gesicht stieß aus der Menge der fremden Menschen um sie herum hervor, und sie nahm wahr, dass er zwischen den anderen Tauben eine besondere Position einzunehmen schien. Es wirkte, als suchten sie seine Nähe und seinen Rat. Gelegentlich trafen sich ihre Blicke. In der Art, wie er sie ansah, lag etwas Wissendes und gleichzeitig ein tiefes Mitgefühl, als ahnte er, durch welche innere Hölle sie ging. Sie senkte den Kopf. Es verwirrte sie, dass jemand, mit dem es das Schicksal augenscheinlich noch viel schlechter gemeint hatte, ihr solche Empfindungen entgegenbrachte.
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    A malia bemühte sich zunächst, die Gedanken an den drohenden Unterricht mit aller Kraft zu verdrängen. Doch es gelang ihr nicht und kostete sie im Gegenteil übermenschliche Beherrschung, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Eine Woche blieb ihr – mehr nicht!
    Sie dachte an Edward und hoffte jeden Tag aufs Neue, er würde sie finden. Er würde keine Ruhe geben, bis ihre Eltern ihm gesagt hatten, wo sie war, versuchte sie sich wie schon so oft zu beruhigen. Sie hatte überlegt, ihm zu schreiben, doch ihr Plan wurde schnell zunichtegemacht, als sie erfuhr, dass die Versendung aller Briefe, die die Heimbewohner schrieben, zuvor von Dr. Graham genehmigt werden musste und er sich auch das Recht herausnahm, sie zu lesen.
    Nicht nur Edward, sondern auch Cathleen fehlte ihr schrecklich. Sie hatte wirre Träume von ihrer Schwester, in denen ihr das Bild von ihr entglitt, wenn sie auf sie zugehen wollte. Als würden sie gegenseitig aus ihrer beider Leben verschwinden, so kam es ihr vor.
    Amalias Verzweiflung wuchs. In den Nächten weinte sie sich in den Schlaf, und sie merkte, wie sie sich mehr und mehr in einen inneren Kokon zurückzog. Apathisch nahm sie an dem Alltag in St. Mary’s Home teil, der einem regelmäßigen Ablauf unterworfen war. Nach dem Aufstehen wurde in der Kapelle eine Andacht gehalten – ein Geistlicher kam dafür eigens jeden Morgen in das Heim. Anschließend gab es Frühstück. Genauso wie die Mittags- und Abendmahlzeit wurde es jeden Tag zur gleichen Zeit gemeinsam im Speisesaal eingenommen, immer im Beisein von Aufsichtspersonal von Pflegern, Lehrern und auch einigen Ärzten. Sie saßen alle an langen Tischen, und die Stimmung dabei hatte etwas Gespenstisches, da es ihnen nicht erlaubt war, sich mit Gesten oder Zeichen zu verständigen, und sie starr nebeneinander ihr Essen einnahmen. Einige Taube sprachen lautsprachlich untereinander, doch es waren meistens nur wenige Sätze, die sie wechselten. Es erschien Amalia eigenartig, wenn nicht geradezu lächerlich, dass jemand, der seine eigenen Worte nicht hören konnte, etwas sagte, das ein anderer, der sie ebenfalls nicht verstand, von seinen Lippen ablesen musste.
    Dem Aufsichtspersonal gelang es allerdings nicht gänzlich, die Verständigung untereinander zu verhindern. Unter dem Tisch oder in kurzen unbeobachteten Momenten, wenn einer der Pfleger oder Lehrer gerade in eine andere Richtung schaute, kam es immer wieder zu einem schnellen Austausch von Gesten und Zeichen zwischen den Heimbewohnern. Nach und nach fiel Amalia auf, dass das nicht nur bei den Mahlzeiten der Fall war. Nach außen wirkte es, als würden die Tauben das Verbot und die Regeln akzeptieren, die man ihnen auferlegte, doch sie hatten nur einen Weg gefunden, sie zu umgehen, und wussten genau, wo und wann sie unbeobachtet waren. Sobald sich die Aufseher entfernten, setzte zwischen ihnen eine lebhafte Kommunikation ein. In den Ecken der Flure, den versteckten Nischen der Salons und im Schatten der Hecken und Bäume des Parks schien es, als gebe es eine zweite Welt in St. Mary’s Home. Es war ein Feuerwerk aus Zeichen, aus Gesten und Mimik, eine wahre Flut von

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