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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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Gebärden, mit denen sie sich verständigten. Finger und Hände flogen durch Luft und Raum, und die Gesichter und Körper waren mit einem Mal von einem sprühenden Leben erfüllt.
    Ähnlich wie bei ihrem kurzen Austausch mit Gordon musste Amalia feststellen, dass sie vieles nicht verstand. Sie nahm wahr, dass die anderen Insassen ihr neugierige Blicke zuwarfen. Doch sie schienen zu spüren, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte, und blieben auf Distanz.
    Gelegentlich begegnete ihr auch das Mädchen, das sie bei Mr Beans im Unterricht gesehen hatte. Es hatte oft verweinte Augen. Es war nicht schwer zu erraten, warum. Einmal ging Amalia zu ihr und nahm sie tröstend in die Arme. Sie hieß Chloe, wie sie erfuhr, und Mr Beans ließ sie regelmäßig zu Sonderstunden zu sich kommen.
    Es wird besser werden. Er wird dich zukünftig etwas in Ruhe lassen, bedeutete sie Chloe.
    Das Mädchen sah sie zweifelnd an. Doch Amalia war sich sicher, dass sie recht hatte. Mr Beans’ Jagdinstinkt und Machtfreude würden sich für einige Zeit ganz auf sie konzentrieren. Zumindest das war ihr ein Trost. Das Leiden des Mädchens durchdrang Amalias eigene Angst und ihren Schmerz, auch wenn es ihr deutlich machte, was in einigen Tagen auf sie selbst zukommen würde.
    Manchmal holte sie die Schachtel mit den Schachfiguren aus dem Schrank. Sie hatte sie heimlich eingesteckt, als sie ihre Sachen für die Reise nach Dover packte. Sie war sich albern vorgekommen, weil sie glaubte, nur drei Tage fort zu sein, doch nun ergriff sie eine tiefe Dankbarkeit darüber. Die Figuren waren ihr ganzer Trost. Wenn sie sie betrachtete, sah sie Edward vor sich und erinnerte sich an jede einzelne Begegnung mit ihm. Mit zugeschnürter Kehle nahm sie die rote Dame in die Hand. Ein winziges Stück Marmor, das alles für sie symbolisierte.
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    E in unappetitlicher gelber Schweißrand zeigte sich an seinem Hemdkragen. Mr Beans hatte hektische rote Flecken im Gesicht, und seine kleinen Äuglein glitzerten unheilvoll. Er war aufgeregt, begriff Amalia, als sie wenige Tage später schließlich d as erste Mal wieder vor ihm saß. Alles in ihr zog sich zusammen.
    »Nun, Amalia, du wirst sehen, dieses Mal wirst du sprechen lernen«, sagte Mr Beans, während er den Stuhl zu sich heranzog.
    Sie nickte beklommen. In der Nacht war sie immer wieder von Albträumen geplagt aus dem Schlaf hochgefahren. Sie musste ihm etwas vorspielen. Es gab keinen anderen Weg. Offener Widerstand ihm gegenüber war sinnlos – hier, wo sie ganz seiner Macht ausgeliefert war.
    »Wir fangen wieder mit den Lauten an. Du erinnerst dich bestimmt?« Er tätschelte ihre Wange, und sie zuckte instinktiv zurück. Dann öffnete sich sein Mund, und es begann alles genau so, als hätte es die letzten vierzehn Jahre nie gegeben: die Speichelfäden in seinem Schlund, der eiserne Griff, die unerträgliche Nähe, die sie seinen säuerlichen Körpergeruch wahrnehmen ließ, und der geifernde Ausdruck in seinen Augen. Anders als damals verstand sie nun in ihm zu lesen und erkannte die sexuelle Gier, die sich in seiner gesamten Person spiegelte. Er war älter geworden – Falten durchzogen sein Gesicht, und das feine Netz von roten Adern hatte sich über seine große Nase bis zu den Wangen hin ausgebreitet. Seine Hand umklammerte ihr Kinn.
    »Wiederhole es, Amalia!«
    Sie kam seiner Aufforderung nach, versuchte, sich weiter in ihr Inneres zurückzuziehen, vor ihrem geistigen Auge das Bild von Edward erzwingend.
    »Nun, immerhin. Auch wenn das kaum mehr als ein krächzender Ton war. Wir werden daran üben müssen«, sagte er gönnerhaft.
    Sie blickte ihn an, und zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass er irritiert wirkte und beinahe ein wenig enttäuscht. Er hatte mit Verweigerung gerechnet. Und noch etwas anderes entdeckte sie in seinem Blick – einen Anflug von Unsicherheit, als würde er sich plötzlich bewusst werden, dass sie kein Kind mehr war und er nicht mehr die gleiche Macht über sie besaß wie damals.
    »Du zeigst dich also einsichtig, ja?«
    Er strich ihr übers Haar. Etwas lag in dieser Geste, das Amalia mehr Angst einjagte als sein gesamtes Verhalten zuvor. Niemals hatte sie ein Nicken so viel Überwindung gekostet, und sie war beinahe erleichtert, als er mit den Lautübungen fortfuhr.
    Mit Ausnahme der Wochenenden hatte sie von nun an täglich bei Mr Beans Unterricht. Sie spürte, dass er zu ergründen versuchte, weshalb sie sich mit einem Mal so widerstandslos seinen Anordnungen fügte.

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