Die Schwestern von Sherwood: Roman
bei ihren Plänen schließlich auf glückliche Weise in die Hände gespielt. Niemand hatte Amalias Verschwinden in Zweifel gezogen oder Nachfragen gestellt, denn in dem schrecklichen Sturm waren mehrere Menschen im Dartmoor umgekommen
Elisabeth verspürte nicht Johns Skrupel. Manchmal musste man nun einmal unangenehme Dinge tun, die vielleicht moralisch verwerflich waren, damit das Richtige geschehen konnte.
Nachdenklich strich sie über die gerötete Haut ihrer Hände. Amalias angeblicher Tod war eine notwendige Lüge gewesen, doch letztendlich würde es ihr in St. Mary’s Home gut gehen. Natürlich würde sie ein wenig Zeit brauchen, um sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen, aber das Heim bot ihr ansonsten jeden Komfort – und vor allem lebte sie dort unter Kontrolle. Selbst John hatte eingesehen, dass man ihr nicht weiter ihre Freiheit lassen konnte. Der Heimleiter würde ihnen darüber hinaus auch regelmäßig Bericht erstatten, wie es Amalia ging. Sie hatten sie zur Vorsicht unter einem falschen Nachnamen, als ihre Nichte Amalia Stone, die angebliche Tochter von Johns inzwischen verstorbener Schwester, untergebracht. Auf Dauer war es sicherlich für alle Beteiligten das Beste, wenn Amalia dort lebte, sagte sie sich erneut.
Nur für einen einzigen, kurzen Moment war Elisabeth über ihre Entscheidung ins Zweifeln geraten – als Cathleen in ihrer Trauer plötzlich von der bevorstehenden Hochzeit Abstand nehmen wollte. Sie hatte all ihre Pläne in Gefahr gesehen. Doch dann war Edward plötzlich regelmäßig nach Sherwood gekommen, um Cathleen zu besuchen. Zeit war vergangen, und nun nach einigen Wochen sah alles ganz anders aus. Die Gläubiger ließen sich nicht länger hinhalten. Edward hatte unter diesem Druck keine Wahl gehabt, und auch Cathleen war schlussendlich wieder zur Vernunft gekommen. Ein Termin für die Hochzeit war bereits festgelegt worden.
Elisabeth spürte, wie sie bei dem Gedanken eine wohltuende Ruhe überkam. Wenn Cathleen erst mit Edward vermählt war, würden sich auch Johns Groll und Reue legen. Er würde es schon noch zu schätzen wissen, dass er Schwiegervater eines echten Lords wurde!
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St. Mary’s Home, Winter 1895
D as Heim lag Meilen von der nächsten Ortschaft entfernt auf dem flachen Land. Selbst wenn es ihr gelänge, durch einen der bewachten Ausgänge von St. Mary’s Home zu fliehen, würde sie nicht weit kommen, denn es gab kaum eine Möglichkeit, sich irgendwo zu verstecken, erklärte ihr Gordon.
Amalia erinnerte sich selbst, wie lange sie mit der Kutsche auf der Landstraße hierher unterwegs gewesen waren. Unvermittelt sah sie ihre Eltern wieder vor sich, wie sie mit ihnen die lange Fahrt im Wagen gesessen und sie ihr vorgemacht hatten, sie würden nach Dover reisen. Einer tiefen Wunde gleich trug sie die Erinnerung daran mit sich.
Du wirst Geduld brauchen und die richtige Gelegenheit abwarten müssen. Etwas anderes wird dir nicht übrig bleiben, wenn du fliehen willst, bedeutete ihr Gordon, und der Blick seiner grauen Augen verriet, dass er spürte, was in ihr vorging. Sie standen in einer Nische der Bibliothek zusammen, und Amalia nickte niedergeschlagen.
Seit jenem Nachmittag, als sie ihn um Hilfe gebeten hatte, sahen sie sich regelmäßig: in der Bibliothek, wo Gordon einen Großteil seiner Zeit beim Lesen und Studium verbrachte, beim Schachspiel, in den Salons oder draußen im Park. Immer waren sie umgeben von anderen – von Insassen, Pflegern und Lehrern. Doch Gordon zeigte ihr, wie man den Blicken und der Aufsicht des Heimpersonals entgehen und trotz aller Kontrolle ein wenig Freiheit haben konnte. Sie stellte überrascht fest, dass die Tauben ihr Leben organisiert hatten. Abwechselnd übernahmen sie es, die anderen zu warnen, wenn das Aufsichtspersonal auf seinen Runden nahte. Wurden sie dennoch dabei ertappt, dass sie sich mit Gebärden verständigten, gab es Ermahnungen und Zurechtweisungen. Im Wiederholungsfall setzte Dr. Graham Strafen fest.
Es kommt gelegentlich vor , bedeutete ihr Gordon achselzuckend, der sich auch in der gesprochenen Sprache verständigen konnte. Er stammte aus einer Fabrikantenfamilie und war als kleines Kind bei einer Explosion in dem elterlichen Unternehmen schwer verletzt worden. Es glich einem Wunder, dass er überlebt hatte . Seine Miene zeigte keinerlei Selbstmitleid, als er ihr davon berichtete.
Nach und nach hatte Gordon Amalia weiter in die Zeichen und Gebärden eingeführt, mit denen er und die anderen sich in
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