Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
Vom Netzwerk:
Menschen – Insassen wie Aufsichtspersonal und Dienstboten – befanden sich im Hof. Die Leute liefen wild durcheinander. Man konnte im Schein der Gaslaternen sehen, wie Wassereimer herbeigeschleppt wurden. In Menschenketten wurden sie eilig weitergereicht.
    Gordon und sie schlichen weiter, bis zur Mauer des Anwesens, in deren Schutz sie vorsichtig zum Ausgang liefen.
    Amalias Herz raste vor Aufregung. Dann entdeckte sie, dass vor dem Tor noch immer einer der Wärter stand. Entmutigt blieb sie stehen. Gordon hatte ihn ebenfalls gesehen. Er gab ihr ein Zeichen, dass sie hier warten sollte. Ich werde ihn weglocken. Du musst dich beeilen! Das Tor wird wahrscheinlich abgeschlossen sein, du wirst darüberklettern müssen.
    Amalia blickte zweifelnd zu dem hohen Eisentor. Es ist sehr hoch. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das schaffe.
    Er packte sie am Arm. Du musst! Nimm die Bank, auf der die Wachen immer sitzen. Ich werde sie später zurückstellen. Hier, das wirst du brauchen. Er drückte ihr zu ihrer Überraschung ein paar Pfundnoten in die Hand. Meine Eltern bringen mir zum Besuchstag immer etwas Geld. Alles Gute, Amalia. Er drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Wange und rannte schon in einem Haken, als käme er vom Hauptgebäude, auf die Wache zu.
    Ihr Atem ging schnell, während sie beobachtete, wie Gordon etwas zu der Wache sagte und gleichzeitig wilde Zeichen machte und auf das Feuer deutete. Sekunden später rannten die beiden Männer in Richtung des Hofs davon.
    Danke, Gordon! Amalia lief im Schutze der Mauer so schnell sie konnte zum Tor. Wie Gordon vermutet hatte, war es abgeschlossen. Sie zog die Bank, die an dem kleinen Torhäuschen stand, zu dem Gitter herüber. Sie war schwer, doch die Angst verlieh Amalia ungeahnte Kräfte. Von der Sitzfläche aus stieg sie weiter auf die Rückenlehne der Bank, die sie wie eine Treppenstufe benutzte, um von dort nach dem Rand des Eisengitters zu greifen, den sie gerade noch mit den Händen fassen konnte. Sie versuchte sich hochzuziehen. Ihre Arme schmerzten. Einen Moment lang befürchtete Amalia, es nicht zu schaffen, doch schließlich konnte sie sich mit dem Oberkörper nach oben stemmen und über das Gitter klettern. Auf der anderen Seite ließ sie sich vorsichtig nach unten gleiten. Das letzte Stück sprang sie. Unsanft landete sie auf dem Boden und richtete sich auf. Sie war in Freiheit.
    116
     
    W enn sie später an ihre Flucht dachte, erinnerte sie sich vor allem an die Angst. An die schreckliche Dunkelheit, in der sie viele Stunden lang unterwegs war und in der sie sich so hilflos fühlte, weil ihre Augen, ihr wichtigstes Sinnesorgan, ihr nicht weiterhelfen konnten – und sie nun blind und taub zugleich war. Auf der einsamen Landstraße vermochte sie kaum etwas zu sehen. Unzählige Male stolperte oder fiel sie über irgendeine Unebenheit, und ihr einziger Trost war der, dass, solange sie selbst so wenig erkennen konnte, sie vermutlich auch von niemandem bemerkt wurde.
    Viele Male hatte sie mit Gordon ihren Fluchtweg besprochen. Wieder und wieder hatte sie die Karten studiert und sich Orte und Straßen eingeprägt, bis sie sie auswendig kannte und genau wusste, wie sie laufen musste. Doch es war etwas völlig anderes, sich den Weg auf einer Karte einzuprägen, als ihn dann tatsächlich vor sich zu haben. St. Mary’s Home lag einsam mitten auf dem Land. Dover und Ramsgate waren in Richtung Meer die nächsten Städte, nach London waren es Ashford und Maidstone. Von Ashford gab es seit etlichen Jahren eine Zugverbindung nach London, doch Gordon hatte ihr geraten weiterzulaufen, bis nach Tonbridge. Wenn sie dich suchen, werden sie an allen Bahnhöfen in der Umgebung nachfragen. Tonbridge liegt dagegen schon zu weit entfernt.
    Und so lief sie und versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass es außer den paar Pfundnoten und den Schachfiguren nichts gab, das sie bei sich hatte. Sie war nicht einmal richtig angezogen – unter dem warmen Wollumhang trug sie nur ihr Nachthemd und den dünnen Hausmantel. Immer wieder drehte Amalia sich im Laufen um. Einige Zeit lang sah sie noch die Flammen in dem brennenden Dachstuhl von St. Mary’s Home, doch dann machte die Straße eine Biegung und wurde hügliger, sodass das Heim aus ihrem Blickfeld verschwand. Würde Gordons Plan klappen und man tatsächlich glauben, dass sie im Feuer umgekommen war? Amalia hoffte es inständig.
    Selbst wenn nicht, schenkte der Brand ihr jedoch erst einmal einen wertvollen Vorsprung. Unbewusst

Weitere Kostenlose Bücher