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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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anderes passiert sein musste, etwas, das nicht allein mit Amalias geheimer Liebesbeziehung und ihrem Verschwinden zu tun hatte, sondern sich parallel ereignete und in die anderen Geschehnisse eingegriffen hatte. Melinda war überzeugt, dass die Notizen von Sandfort ihr genau dazu eine Antwort geben konnten.
    »Würden Sie mir vielleicht erlauben, selbst einen Blick in die Unterlagen Ihres Vaters zu werfen?«, fragte sie aufgeregt.
    »Aber ja«, erwiderte Sandfort. »Genau das wollte ich Ihnen anbieten!«

AMALIA

114
     
    St. Mary’s Home, Winter 1895/1896
    A malia hatte mit Gordon einen detaillierten Plan ausgearbeitet. Sie entschieden, dass das Gastspiel des Zirkus der bessere Zeitpunkt für ihre Flucht sein würde. Es lag zeitlich näher als der Besuchertag, an dem die Angehörigen nach St. Mary’s Home kamen. Obwohl Amalia es für unwahrscheinlich hielt, dass ihre Eltern sie besuchen würden, wollte sie nicht das Risiko eingehen, ihnen auf einmal gegenüberzustehen. Es hätte ihre Flucht zwangsläufig vereitelt.
    Nach dem schrecklichen Vorfall mit Mr Beans hatte sie sich lange mit Gordon unterhalten. Sie waren beide zu dem Schluss gekommen, dass der Heimleiter ihnen wohl tatsächlich nicht glauben würde. Allein Gordons Anwesenheit im Frauentrakt wäre schwierig zu erklären gewesen, denn im Gegensatz zum Aufsichts- und Dienstpersonal war es den Insassen nicht gestattet, sich im Wohntrakt des anderen Geschlechts aufzuhalten. Lediglich die Gemeinschaftsräume und der Park waren beiden Seiten zugänglich.
    Wie Gordon ihr später berichtete, hatte er jedoch schon den ganzen Tag mitbekommen, dass Mr Beans sie mit unruhigem Blick beobachtete. Als Amalia am Nachmittag nicht wie sonst in der Bibliothek oder einem der Salons auftauchte und auch der Lehrer verschwunden war, hatte er sich beunruhigt auf die Suche nach ihr gemacht.
    Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll … Sie versuchte zu verdrängen, was passiert wäre, wenn Gordon nicht aufgetaucht wäre.
    Was um Gottes willen ist geschehen? , fragte er mit einem durchdringenden Blick, und sie begriff, dass er damit nicht Mr Beans, sondern sie selbst meinte.
    Mit zögerlichen Gebärden begann Amalia, ihm schließlich alles zu erzählen – von Edward und sich, von ihrer Schwester Cathleen, dem schrecklichen Nachmittag, an dem sie erfahren musste, dass der Mann, den sie liebte, der zukünftige Ehemann ihrer Schwester war, wie ihre Eltern sie fortgebracht hatten und sie schließlich hier in der Zeitung die Vermählungsanzeige entdeckt hatte.
    Es war das erste Mal, dass sie ihre Gefühle und Erlebnisse mit jemandem teilte, und obwohl sie dabei weinte, hatte es etwas Tröstliches. Stück für Stück skizzierte sie das Bild dieses Dramas, das ihr die beiden Menschen genommen hatte, die sie am meisten liebte. Der Blick aus Gordons grauen Augen war warm und voller Mitgefühl.
    Er fasste sie kurz am Arm. Du bist stark, Amalia.
    Niedergeschlagen blickte sie auf die Hände in ihrem Schoß. Sie hatte keine Wahl, das wusste sie. Mr Beans würde sie nicht in Ruhe lassen. Doch welchen Sinn hatte eine Flucht jetzt noch?
    Gordon blickte sie an, als hätte er ihre Gedanken erraten. Du wirst frei sein, Amalia. Du wirst von hier weggehen und dir ein anderes Leben aufbauen … Bis du volljährig bist, musst du vorsichtig sein. Aber in ein paar Monaten, wenn du einundzwanzig geworden bist, wird es für deine Eltern schwierig werden, dich wieder in ihre Gewalt zu bringen. Die Organisation in London, von der ich dir erzählt habe, sie wird dir auf jeden Fall helfen.
    Amalia nickte. Über all das hatten sie schon viele Male gesprochen. Sie blickte Gordon an. Willst du nicht mit mir nach London kommen? , bedeutete sie ihm plötzlich.
    Ein überraschter Ausdruck glitt über sein gezeichnetes Gesicht. Er lächelte leicht und strich ihr in einer brüderlichen Geste übers Haar. Nein, mein Platz ist hier. Ich weiß, dass ich für viele Menschen in diesem Heim wichtig bin, und das bedeutet mir etwas.
    Sie nickte. Es stimmte, dass viele Insassen in St. Marys Home ihn brauchten. Sie erinnerte sich, wie ihr von Anfang an aufgefallen war, dass die anderen seine Nähe suchten. Doch die Vorstellung, von ihm Abschied nehmen zu müssen, fiel ihr schwer. In der Zeit hier war zwischen ihnen eine echte und tiefe Freundschaft gewachsen.
    Ihre Gedanken wandten sich wieder der Flucht zu. Obwohl der Winter sich inzwischen seinem Ende zuneigte und die Tage milder wurden, war es bis zu dem Gastspiel des Zirkus

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