Die Schwestern von Sherwood: Roman
Danke!
Wenig später saß sie in einem viel zu großen Kleid, das sich an ihrer zierlichen Gestalt überall bauschte, am Tisch und aß die Suppe und den Schinken, die ihr die Haushälterin gebracht hatte. Ein wenig Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. Sie war ausgehungert und hatte fast zwei Tage nichts gegessen. Mrs Stewart, von ihrem mütterlichen Instinkt gepackt, bestand darauf, ihr auch noch eine Schokolade zu kochen, die sie ebenfalls trank.
Dann erzählte Amalia ihm, was geschehen war – ihre ganze Geschichte, wie ihre Eltern sie in das Heim gebracht und sie dort Mr Beans wiedergetroffen hatte. Es war der Moment, in dem Dr. Stevenson endgültig begriff, welch verheerender Fehler es gewesen war, den Sherwoods diesen Mann als Lehrer zu empfehlen. Er hatte nur das Beste für das Mädchen gewollt, und nun erfuhr er erschüttert, was für ein Mensch dieser Beans wirklich war.
Amalia berichtete ihm von dem Plan zu ihrer Flucht und wie sie schließlich hierhergekommen war. Während sie erzählte, spiegelten sich Angst, Verletztheit und Ohnmacht so deutlich auf ihrem Gesicht, als würde sie alles noch einmal durchleben.
Haben Sie keine Furcht mehr, wir werden Ihnen helfen. Sie sind hier in Sicherheit!
Er sah, wie erschöpft sie war. Sie sollten etwas schlafen. Ich werde Sie fürs Erste in das Gästezimmer neben Mrs Stewart einquartieren . Wenn Sie etwas brauchen, Sie können sich jederzeit an sie wenden. Sie versteht auch ein wenig Gebärdensprache.
Amalia schlief fast zwanzig Stunden. In dieser Zeit kontaktierte Dr. Stevenson einige Personen. Sie waren eine Organisation, die keinen offiziellen Status hatte, sondern eher ein Verbund von Menschen, die versuchten, Tauben dabei zu helfen, ein eigenes Leben aufzubauen, die Kontakte herstellten und sich untereinander unterstützten. Viele von ihnen waren selbst taub. Das unterschied sie von anderen, offiziellen Organisationen, in deren Vorständen fast immer nur Hörende saßen. Es war für Dr. Stevenson ein langer Weg hierher gewesen. Als junger Arzt hatte er wie die meisten seiner Kollegen die Ansicht vertreten, dass es für einen tauben Patienten richtig sei, alle Anstrengungen darauf zu konzentrieren, das Sprechen und Lippenlesen zu erlernen. Wie anders sollten sie sich sonst in der Gesellschaft zurechtfinden? Als 1880 auf dem großen, internationalen Taubstummen-Lehrer-Kongress in Mailand festgelegt wurde, dass die Verwendung der Gebärdensprache unter allen Umständen zu unterbinden sei, weil sie das Erlernen der gesprochenen Sprache behindere, war ihm das durchaus logisch erschienen. Auch er hatte die Gebärdensprache immer nur für eine primitive Verständigungsart gehalten. Doch in den Jahren danach ließ ihn die Arbeit mit seinen Patienten immer mehr daran zweifeln. Ihm wurde klar, dass es ein bedeutender Unterschied war, wann ein Mensch sein Gehör verlor. Je später, desto einfacher war es, sprechen zu lernen, doch für jemanden, der von Geburt an nicht hören konnte, war es ein unendlich langer und mühseliger Weg, da es keine Erfahrung gab, auf die sein Gehör zurückgreifen konnte. Es dauerte Jahre und ging oft zu Lasten des übrigen Wissensstands.
Zunächst mehr aus wissenschaftlichem Interesse begann Dr. Stevenson damals selbst, die Gebärdensprache zu erlernen. Musste es nicht einen Sinn haben, wenn sich von jeher alle Tauben auf der Welt untereinander so verständigt hatten? Erstaunt musste er feststellen, dass es sich um ein überaus komplexes Sprachsystem handelte, das keineswegs nur auf einfachen Bildern aufbaute. Es war der erste Schritt in eine Richtung, die Dr. Stevenson schließlich zu der Organisation Deaf Friends – Taube Freunde – in London führte, für die seine Arztpraxis inzwischen eine wichtige Anlaufstelle war.
Amalia Sherwoods Fall war nicht einfach, befand er jetzt. Sie würde erst im Sommer die Volljährigkeit erreichen. Danach konnten die Eltern und das Heim zwar immer noch versuchen, ihr die geistige Urteilsfähigkeit abzusprechen – so etwas kam immer wieder vor –, doch mit der Unterstützung der Organisation würden sie keine Chance haben. Es wäre tatsächlich von Vorteil, wenn man bis dahin glaubte, Amalia sei bei dem Brand ums Leben gekommen, stellte er fest. Dann würde zumindest niemand Nachforschungen anstellen.
Er beschloss, einen Freund aufzusuchen, der Jurist war. Jim Morgan stand der Organisation nahe und war ihnen gelegentlich bei rechtlichen Belangen behilflich.
»Kennst du jemanden, der für uns unten
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