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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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beschleunigte sie ihre Schritte. Sie merkte, dass sich ihre Augen ein wenig an die Dunkelheit zu gewöhnen begannen und sie zumindest schemenhaft Umrisse erkannte. Die Weite um sie herum übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus, und während sie mit tiefen Atemzügen die kühle Nachtluft in sich aufsog, erinnerte sie sich, wie oft sie früher allein in der Einsamkeit des Dartmoors unterwegs gewesen war. Es erschien ihr wie ein anderes Leben. Mit der Flucht ließ sie es für immer hinter sich.
    Amalia brauchte zwei Tage, bis sie London erreichte. Meilen um Meilen lief sie die Straße entlang und vermied jeden Kontakt mit Menschen. Zu groß war ihre Furcht, jemand könne sie ansprechen und es würde auffallen, dass sie taub war. Sie wagte nicht einmal, sich am ersten Tag etwas zu essen zu kaufen, und trank nur aus einem Brunnen etwas Wasser.
    Die folgende Nacht schlief sie abseits der Straße in einem Feldgraben. Es waren kaum mehr als ein paar Stunden, denn die Angst, jemand könne sie entdecken, ließ sie trotz ihrer Erschöpfung immer wieder aus dem Schlaf hochfahren. Sie fühlte sich wie gerädert, ihre Füße schmerzten. Am Ufer eines einsamen Bachs wusch sie sich, klopfte ihren Mantel sauber und versuchte ihre wirren Haare zu einem Zopf zu flechten. Dann lief sie weiter und erreichte nach einem weiteren Marsch schließlich Tonbridge.
    Dort begab sie sich an der Bahnhofstation zum Fahrkartenschalter. Ein uniformierter Verkäufer fragte sie nach ihren Wünschen. Sie schenkte ihm ihr freundlichstes Lächeln und deutete erst auf ihren Hals und dann auf einen Stift, der vor dem Mann lag. Verwundert reichte er ihn ihr. Sie schrieb, dass sie wegen einer Stimmbandverletzung nicht sprechen dürfe und ein Ticket nach London wünsche. Gordon hatte ihr zu dieser Lüge geraten. So fällt nicht auf, dass du taub bist, falls man vom Heim doch noch Nachforschungen anstellen sollte.
    Amalia bemühte sich, das Zittern ihrer Hände vor dem Fahrkartenverkäufer zu verbergen. Sie gab ihm ihr Geld, und er reichte ihr das Ticket und Wechselgeld zurück.
    Sie war aufgeregt und von einer leisen Furcht vor dem Unbekannten erfüllt, das sie erwartete. Als kleines Mädchen war sie einmal mit dem Zug gefahren, aber sonst war sie nie weit von Sherwood fortgekommen. Passanten warfen ihr im Vorbeigehen neugierige Blicke zu. In ihrem einfachen langen Wollumhang fiel sie zwischen den Menschen auf, und sie war froh, als sie endlich im Zug saß.
    Die Fahrt verging schnell – es erschien ihr unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit sie die Strecke zurücklegten.
    Zwei Stunden später kam sie schon in London an.
    Als sie von der Bahnhofshalle nach draußen trat, ergriff sie ein Schock. Das Getümmel von Menschen, Droschken und Pferden und die vielen fremden Gerüche, die sie empfingen, drohten sie zu überwältigen. Sie starrte auf die hohen Gebäude vor sich, dieses Meer von Häusern, aus dem vereinzelt die Spitze eines Kirchturms ragte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie spürte, wie sie so kurz vor dem Ziel plötzlich Panik überkam. Wie sollte sie sich hier zurechtfinden? Sie hatte die Adresse von der Organisation, die Gordon ihr gegeben hatte, auswendig gelernt. Doch das half ihr auch nicht weiter. Menschen stießen im Vorbeigehen gegen sie und blickten sie kopfschüttelnd an, weil sie mitten auf dem Gehsteig stand und sich verwirrt umsah.
    Schließlich wusste Amalia sich keinen anderen Rat, als in einem kleinen Lebensmittelgeschäft um Hilfe zu bitten. Wie zuvor am Fahrkartenschalter in Tonbridge zeigte sie auf ihren Hals und deutete auf einen Stift, der neben der Kasse lag. Dann schrieb sie die Adresse auf, die sie suchte, und fragte, ob man ihr den Weg dorthin erklären könne.
    Der Verkäufer, ein dickbäuchiger Mann mit Schnurrbart, runzelte die Stirn und schien zu überlegen, ob er die Straße kannte. Dann begann er wild zu gestikulieren. Offensichtlich beschrieb er ihr den Weg dorthin. Amalia starrte auf seine Lippen, die durch den Schnurrbart verdeckt wurden – sie verstand kein Wort. Mit Tränen in den Augen blickte sie ihn an. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis der Verkäufer endlich begriff, dass sie ihn nicht hören konnte. Erschrocken schaute er auf ihre Tränen und ergriff sie kurz entschlossen am Arm. Er zog sie mit sich aus dem Laden und deutete zu einer Haltstelle, auf die aus einiger Entfernung ein Pferdeomnibus zukam. Dann hob er die Hand und streckte fünf Finger hoch.
    Amalia nickte. Fünf Stationen, meinte

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