Die Schwestern von Sherwood: Roman
noch immer einige Wochen hin.
Amalias größtes Problem stellte der Unterricht bei Mr Beans dar. Da sie sich über seine Zudringlichkeiten nicht bei Dr. Graham beschwert hatte, musste sie auch weiter zu den täglichen Stunden bei ihm gehen. Sie fürchtete sich davor – aber zu ihrer Überraschung ignorierte Mr Beans, was zwischen ihnen vorgefallen war, und hielt sich ihr gegenüber plötzlich zurück. Nur manchmal bemerkte sie, mit welch kaltem Blick er sie musterte. Sie war sich sicher, dass seine Zurückhaltung nicht lange andauern würde und er insgeheim einen Plan schmiedete. Voller Angst achtete sie von nun darauf, sich nie wieder auf den verlassenen Treppen und in den Gängen oder irgendwo sonst auf dem Anwesen ohne Begleitung aufzuhalten. Sollte Mr Beans ihr jemals wieder allein begegnen, würde sie kein zweites Mal so glimpflich davonkommen!
115
S ie wachte von einem brenzligen Geruch auf. Dann nahm sie die Vibrationen wahr. Menschen liefen durch das Gebäude, wurde ihr klar. Schlagartig war Amalia hellwach. Es war mitten in der Nacht. Sie griff nach ihrem Umhang, schlüpfte in die Schuhe, war mit einem Satz bei der Tür und riss sie auf. Der beißende Geruch von Rauch lag in der Luft. Er drang von der linken Seite des Trakts zu ihr herüber. Sie konnte im Halbdunkeln sehen, dass auch einige andere Mädchen und Frauen aus ihren Zimmern gekommen waren. Panisch blickten sie sich um. Ein Pfleger schlug gegen die Türen und schrie etwas. Niemand verstand, was er sagte, doch sein verzerrter Gesichtsausdruck und die schwenkenden Armbewegungen, mit denen er immer wieder in die entgegengesetzte Richtung deutete, aus der der Rauch kam, sagten genug. Sie mussten hier raus.
Die Schachfiguren. Sie konnte nicht ohne sie gehen. Amalia stürzte zurück in ihr Zimmer und riss die Schachtel hastig aus dem Schrank. Sie lief zurück zur Tür und hatte kaum die Schwelle übertreten, als sie eine Hand am Arm packte. Ein Schreckensschrei entstieg ihrer Kehle, dann sah sie im Halbdunkeln das Gesicht von Gordon vor sich.
Es brennt! Sie wollte ihn nach rechts mit sich ziehen, wohin auch die anderen gerannt waren, denn der Rauch war inzwischen stärker geworden. Doch Gordon hielt sie entschlossen fest. Nein, warte!
Sie zweifelte kurz an seinem Verstand und machte einige heftige Handbewegungen. Wir müssen hier raus!
Ja, aber wir nehmen die andere Richtung. Das ist deine Chance, Amalia!
Der Blick seiner grauen Augen drang in sie, und plötzlich verstand sie. Es konnte keinen besseren Zeitpunkt für ihre Flucht geben. Er drückte ihr einen dunklen Umhang in die Hand, den sie im Laufen überwarf, und zog sie mit sich.
Draußen ist die Hölle los. Alle sind mit dem Feuer beschäftigt , erklärte er, während er mit ihr weiter nach links rannte – direkt in den Rauch hinein. Kein Mensch war mehr in diesem Teil des Frauentrakts. Amalias Augen tränten, und sie spürte einen schrecklichen Hustenreiz. Es war unvorstellbar warm. Panisch sah sie Gordon an. Wir werden sterben!
Nein, das Feuer ist oben im Dachstuhl.
Sie liefen weiter, bis sie die Dienstbotentreppe erreicht hatten. Gordon hielt unvermittelt in seinem Schritt inne und ließ seinen Blick suchend an ihrer Gestalt hinuntergleiten. Seine Augen blieben an ihrer engen Halskette hängen. Gib mir deine Kette – und den Ring!
Sie begriff. Eilig nahm sie die beiden Schmuckstücke ab, die sie auch beim Schlafen immer trug, und gab sie ihm.
Warte hier! , bedeutete er ihr.
Mach das nicht, bring dich nicht in Gefahr!
Was kann das Feuer mir schon noch anhaben? , gab er ihr zur Antwort, und entsetzt sah sie, dass er, anstatt die Treppe nach unten zu nehmen, nach oben direkt in die Richtung des Feuers lief.
Im selben Moment, als er hustend und mit gerötetem Gesicht, auf dem sich Rußspuren zeigten, wieder zurückkehrte, war über ihnen eine schwere Erschütterung wahrzunehmen. Einer der Dachbalken brach zusammen.
Gordon riss sie mit sich. Seine Hände flogen im Laufen durch die Luft. Schnell, der Dachstuhl wird einstürzen! Weitere Erschütterungen, stärker als zuvor, waren über ihnen zu spüren, und sie konnten fühlen, wie die Hitze über ihnen unerträglich stark wurde, als würde sich das Feuer in einem Sog den Weg nach unten erkämpfen und nach ihnen greifen wollen.
Sie stürzten die Treppe hinunter. Außer Atem und hustend kamen sie am Dienstbotenausgang des Seitentrakts an. Amalia blickte sich ängstlich um. Doch Gordon hatte recht. Niemand achtete auf sie. Alle
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