Die Schwestern von Sherwood: Roman
er? Sie neigte dankend den Kopf. Er lächelte und schüttelte dabei in einer väterlichen Manier leicht den Kopf, als könne er nicht glauben, dass sie ganz allein in London unterwegs war. Unerwartet hob er die Hand. » Warten Sie …« Überrascht sah sie ihm hinterher, wie er zurück in den Laden rannte und mit einem Apfel in der Hand wiederkehrte. Abermals lächelnd reichte der Verkäufer ihn ihr. Amalia konnte nichts dagegen tun – ihr stiegen erneut Tränen in die Augen.
Im selben Augenblick hielt der Pferdeomnibus an der Haltestelle. Der Verkäufer rief dem uniformierten Kontrolleur etwas zu, und eine Hand half ihr beim Einsteigen. Ehe sie sichs versah, stand sie schon auf dem Trittbrett.
Amalia reichte dem Kontrolleur ihr restliches Geld. Kopfschüttelnd gab der Mann ihr die Hälfte zurück und drückte ihr einen Fahrschein in die Hand.
Sie nahm aufgeregt auf einer der Sitzbänke Platz und schaute mit großen Augen nach draußen auf das geschäftige Treiben. Ihre Hand umklammerte den Apfel. Er war leuchtend rot. Obwohl sie vor Hunger fast umkam, brachte sie es nicht über sich, ihn zu essen. Er erschien ihr wie ein Glücksbringer für ein neues Leben.
Amalia zählte die Stationen, an denen sie hielten, und an der fünften stieg sie aus.
Es war eine gutbürgerliche Wohngegend, in der sie sich befand. Die Straßen waren weniger voll als am Bahnhof, aber dennoch liefen auch hier überall Menschen auf den Gehsteigen entlang. Suchend blickte sie sich um und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sie sich bereits in der richtigen Straße befand. Wenige Augenblicke später klingelte sie an der Tür eines schlichten Stadthauses. Eine Haushälterin öffnete ihr.
»Ja bitte?«
Amalia bewegte die Hände. Ich habe Ihre Adresse von Gordon Franklin …
Die Frau musterte sie erstaunt, doch dann nickte sie und gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, kurz zu warten. Wenige Augenblicke später kehrte sie in Begleitung eines Mannes zurück.
Amalia sah ihn überrascht an. Es gehörte zu den eigentümlichen Folgen ihrer schweren Scharlacherkrankung, dass die Gesichter mancher Menschen, denen sie in ihrer Kindheit begegnet war, wie ausgelöscht waren, während andere sich für immer in ihre Erinnerung gebrannt hatten. Beinahe so, als sei sie ihnen erst gestern begegnet. Zu diesen Menschen, die sie nie vergessen hatte, gehörte auch ein Arzt. In den vielen Wochen, in denen Amalia im Krankenhaus und zu Hause immer wieder untersucht wurde, war er der Einzige gewesen, der freundlich und einfühlsam mit ihr umging und ihr nicht das Gefühl nahm, ein menschliches Wesen zu sein. Dieser Mann stand direkt vor ihr. Es war Dr. Stevenson.
117
M anchmal schlossen sich die Kreise im Leben – allerdings nicht immer so, wie man es sich wünschte. Zu dieser schmerzhaften Erkenntnis gelangte auch Dr. Stevenson, als Amalia Sherwood an jenem Nachmittag vor seiner Tür stand und ihn die Vergangenheit mit ihr wieder einholte.
Dr. Stevenson hatte sie nicht sofort erkannt. Er sah nur, dass die junge Frau, die in dem langen Wollumhang erschöpft und mit nichts außer einem Apfel in der Hand vor ihm stand, Hilfe brauchte.
Ich bin Amalia Sherwood, schrieb sie auf einen Block, der auf dem Tisch im Eingang lag und den sie sofort ergriff. Wir kennen uns. Sie haben mich untersucht, als ich ein Kind war. Sie schrieb weiter, dass sie seine Adresse von Gordon Franklin habe und Hilfe brauche. Sie sei aus St. Mary’s Home geflohen.
Mit einem beklemmenden Gefühl hatte er genickt und sie willkommen geheißen. Es war ein langer Weg von St. Mary’s Home, und als sich Amalia beim Schreiben etwas nach vorn beugte, öffnete sich ihr Wollumhang an den Beinen ein Stück, und er bemerkte, dass sie darunter nur einen leichten Negligémantel trug. Eine dunkle Ahnung befiel ihn, was sie durchgemacht hatte.
Er bewegte die Hände. Wir können in der Gebärdensprache sprechen, wenn Sie möchten.
Sie schaute ihn an, erfreut und erleichtert und mit einem unerwartet offenen Blick – und in diesem Augenblick erinnerte er sich. In aller Deutlichkeit hatte er wieder das kleine Mädchen vor Augen, das damals vor ihm auf dem Tisch saß und von ihm untersucht worden war. Er schluckte. Was war in ihrem Leben geschehen? Statt es sie jedoch zu fragen, schenkte er ihr ein warmes Lächeln.
Sie sind bestimmt hungrig. Ich werde Mrs Stewart, die Haushälterin, bitten, Ihnen etwas zu essen zu machen. Sie wird Ihnen auch etwas zum Anziehen geben.
Sie nickte erleichtert.
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