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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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an der Küste unauffällig ein paar Erkundigungen einziehen kann?«, fragte er.
    Jim nickte. »Ein Freund und Anwaltskollege von mir lebt dort. Er ist geschickt genug, etwas in Erfahrung zu bringen. Die Kleine ist tatsächlich aus St. Mary’s Home geflohen?«, fragte er dann. »Das nenne ich mutig.«
    »Ja, sie ist bis Tonbridge zu Fuß gegangen.«
    Jim pfiff leise durch die Zähne. Einen Moment lang schwiegen sie. St. Mary’s Home war ihnen beiden ein Begriff. Das Heim rühmte sich seines Standards, doch die Insassen lebten dort mehr oder weniger wie in einem Gefängnis.
    »Ich würde ihr dringend empfehlen, erst einmal einen anderen Namen anzunehmen«, sagte Jim.
    Dr. Stevenson nickte. Darüber hatte er auch schon nachgedacht.
    118
     
    Sherwood, Frühjahr 1896
    E lisabeth ahnte, dass der Brief keine gute Nachricht enthielt, denn er wurde von einem Boten gebracht – zusammen mit einem verschnürten Karton. Beides kam aus St. Mary’s Home. Sie schickte Fanny aus dem Zimmer und setzte sich auf einen Stuhl. Mit leiser Unruhe blickte sie auf den Umschlag und öffnete ihn.
    Sehr verehrte Mr und Mrs Sherwood,
    mit großer Trauer und mit Bedauern muss ich Ihnen leider die Nachricht übermitteln, dass es in St. Mary’s Home zu einem schrecklichen Unglück gekommen ist, bei dem Ihre Nichte, Amalia Stone, ihr Leben gelassen hat. In der Nacht zum 13. März fing der Dachstuhl des rechten Gebäudeflügels aus bisher ungeklärter Ursache Feuer. Obwohl sofort mit der Evakuierung der Insassen begonnen wurde …
    Die Zeilen verschwammen vor ihren Augen, während ihr Kopf den Inhalt zu erfassen suchte. Sie war tot? Amalia war tot! Elisabeth ließ den Brief in ihren Schoß sinken. Mit zugeschnürter Kehle starrte sie in den Kamin und spürte einen unerwartet heftigen Schmerz. Das hatte sie nicht gewollt!
    Schließlich griff sie zögernd nach dem Karton und öffnete ihn. Amalias Kleidung und ihre persönlichen Sachen lagen darin. Rußpartikel hafteten daran, und Elisabeth stieg ein unangenehmer Brandgeruch in die Nase. In einer kleinen Schachtel befanden sich ein geschwärzter und zum Teil eingeschmolzener Ring und eine Kette in einem ebensolchen Zustand. Amalia hatte die Schmuckstücke nie abgenommen, entsann sie sich. Man hatte sie, so stand es weiter unten in dem Brief, Tage nach dem Brand zwischen den eingestürzten und verkohlten Resten des Dachstuhls gefunden, der einen Teil der beiden darunterliegenden Stockwerke mit sich gerissen hatte. Amalia war, wie es schien, in ihrer Panik in die falsche Richtung, direkt in das Feuer hineingelaufen. Man nahm an, so hieß es weiter, dass die Petroleum-Fässer, die im Erdgeschoss in einer der Vorratskammern lagerten, zu einer zusätzlichen Explosion geführt hatten.
    Den verbrannten Geruch in der Nase, sah Elisabeth sie vor sich. Ihr helles Haar, die Flammen, ihre Schreie …
    Ihr wurde schlecht, und sie versuchte vergeblich, die Bilder wegzudrängen. Und plötzlich weinte sie, nicht nur, weil ihre Tochter tot war, sondern weil überhaupt alles so gekommen war. Sie erinnerte sich an Amalia als kleines Mädchen – wie ungeheuer zart und schön sie immer war! Elisabeth hätte Stunden an ihrem Bett stehen können, wenn sie schlief, nur um sie einfach zu betrachten. Manchmal hatte sie nicht glauben können, dass dieses Geschöpf tatsächlich ihre Tochter war. Es war Elisabeth wie eine Auszeichnung und ein Geschenk vorgekommen. Würde sie selbst mit ihrer kräftigen Figur und den rauen, geröteten Händen auch nie dem Bild einer echten Dame der Gesellschaft entsprechen, ihre Tochter tat es. Welche Pläne sie mit Amalia gehabt hatte! Doch dann war alles anders gekommen. Elisabeth war nie darüber hinweggekommen, und ein Teil von Amalia war für sie schon damals gestorben, als feststand, dass sie für immer taub bleiben würde.
    Eine Weile lang saß Elisabeth so da und dachte über die Grausamkeit des Schicksals nach. Doch dann wurde ihr durch ihre Trauer hindurch bewusst, dass ihr Tod sie im Grunde befreite. Die Angst, dass irgendwann doch herausgekommen wäre, was sie und John getan hatten, und es Amalia vielleicht gelungen wäre, ein Lebenszeichen an Cathleen oder sogar Edward zu senden, hatte sie nie verlassen. Und war es nicht auch für Amalia so besser? Was für ein Leben hätte sie schon erwartet?
    Elisabeth merkte, wie ihre Tränen versiegten und ihre Vernunft wieder die Oberhand gewann. Sie wappnete sich innerlich, John die schreckliche Nachricht mitzuteilen. Er würde ihr und sich

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