Die Schwestern von Sherwood: Roman
würde sie Melinda schon seit Langem kennen. Sie deutete auf einen Stuhl, der neben ihrem Bett stand.
Melinda kam ihrer Aufforderung nach. Auch George setzte sich. Die Züge der alten Dame wurden zunehmend weicher, während sich ein ungläubiger, beinahe fassungsloser Ausdruck darin spiegelte, als sie die junge Frau genauer in Augenschein nahm. Genauso hatte sie sie auch im Garten in Hampton angeschaut, erinnerte sich Melinda irritiert.
»Verzeihen Sie, mein Verhalten muss Ihnen seltsam vorkommen«, entschuldigte sich Emily Barrington im selben Moment mit belegter Stimme. »Aber Sie sehen ihm einfach so ähnlich! Ich wünschte, er hätte Sie noch kennengelernt …«
Melinda verspürte ein trockenes Gefühl im Mund, als sie sah, dass zwei Tränen ihre Wangen hinunterrannen. »Ich verstehe nicht – wem sehe ich ähnlich?«
Die alte Dame lächelte. »Ihrem Großvater, mein Kind. Sie haben die gleichen Wangen, den gleichen Mund und das gleiche schwarze Haar wie mein Bruder.«
Melinda starrte sie entgeistert an. Einen Augenblick lang glaubte sie, sich verhört zu haben. Hatte sie »ihrem Bruder« gesagt? Lord Hampton?
Emily Barrington bemerkte ihren verwirrten Gesichtsausdruck. »Sie sind die Enkeltochter von Amalia Sherwood und Lord Hampton, Melinda. Deshalb habe ich Ihnen auch das Paket schicken lassen!«
Melinda war noch immer sprachlos. Ihre Mutter war die Tochter von Lord Hampton? Ihre Großmutter und Edward Hampton hatten ein Kind bekommen? Mit einem Mal schien sich alles zusammenzufügen.
»Aber warum haben Sie mir das nicht geschrieben, weshalb haben Sie keinerlei Erklärung zu dem Paket gegeben?«, entfuhr es ihr. Überrascht bemerkte Melinda, wie aufgebracht sie war. Über Wochen hatte sie herumgerätselt, was es mit dem mysteriösen Inhalt auf sich hatte. Sie kam sich vor, als hätte man sie einer Prüfung unterziehen wollen.
Melinda nahm wahr, dass George, der neben ihr saß, das Wort ergreifen wollte, doch Lady Barrington gab ihm ein Zeichen, sie fortfahren zu lassen. »Mir waren die Hände gebunden, mit Ihnen persönlich Kontakt aufzunehmen, doch ich wollte, dass Sie diese Sachen bekommen. Es gab nichts, was Ihrem Großvater mehr bedeutet hat«, erklärte sie.
Melinda schwieg. Sie sah in Gedanken die Briefe vor sich, die sie vom ersten Moment an so tief berührt hatten, weil man spürte, wie sehr dieser Mann ihre Großmutter geliebt hatte. Plötzlich erinnerte sie sich an den Anruf des Antiquitätenhändlers und wie dieser ihr berichtet hatte, dass ihre Großmutter die Schachfiguren 1896 zum Verkauf angeboten und Edward Hampton sie kurz darauf ein zweites Mal erstanden hatte. Die beiden waren sich erneut begegnet, nach ihrer Flucht aus dem Heim, wurde ihr klar – als er schon mit ihrer Schwester Cathleen verheiratet gewesen war. Melindas Kehle schnürte sich zu. »Was ist damals passiert? Hat sich mein Großvater von meiner Großmutter getrennt, weil sie schwanger war?«, fragte sie.
Lady Barrington blickte Melinda an. »Getrennt? Deshalb? Nein, das hätte er nie …« Sie wirkte mit einem Mal traurig und schloss für einen Moment die Lider.
»Sollen wir eine Pause machen?«, mischte sich George ein.
Die alte Dame schüttelte den Kopf und öffnete wieder die Augen. »Nein!« Dann blickte sie Melinda an. »Wir sind alle Gefangene unserer Zeit. Auch Ihre Großeltern waren es. Ich werde Ihnen erzählen, was damals geschehen ist.«
AMALIA
138
A malia ging zu Dr. Stevenson. Ihr fiel niemand anderes ein, der ihr helfen konnte. Viele Stunden hatte sie geweint, nachdem Cathleen gegangen war, denn ihr war klar, dass sie nur eins tun konnte. Sie musste Edward verlassen. Es gab keine Zukunft für sie beide. Es stimmte, was ihre Schwester sagte – er würde alles hinter sich lassen, um mit ihr zu leben. Doch zu welchem Preis? Er war mit Cathleen verheiratet. Nichts würde daran etwas ändern. Wie konnte sie, die Schwester, seine Geliebte bleiben? Noch dazu, da sie ein Kind von ihm erwartete. Der Skandal würde den Namen, den Ruf und damit das Leben von ihnen allen ruinieren. Doch vor allem ging es Amalia um ihre Schwester. Als Cathleen vor ihr gesessen und ihr erzählt hatte, wie sehr sie sich ein Kind wünschte, hatte sie ihre ganze Traurigkeit und Verzweiflung gespürt. Sie würde ihre Schwester ins Unglück stürzen, und dazu hatte sie kein Recht. Sie verdankte Cathleen alles. Damals im Krankenhaus, als Kind, als Amalia nach der Scharlacherkrankung zum ersten Mal begriff, dass sie taub war, und
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