Die Schwestern von Sherwood: Roman
noch einmal zu nahe treten würde.
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D er Arzt sprach nicht mit ihr, sondern nur mit der Dolmetscherin, die sie von Deaf Friends kannte und mitgenommen hatte. Ärger stieg in Amalia hoch. Wenn er ihr etwas mehr das Gesicht zuwenden würde, hätte sie jedes Wort von seinen Lippen lesen können.
Sag ihm bitte, dass er mich anschauen soll, wenn er redet, damit ich verstehe, was er sagt!
Mary, die sie gut kannte, nickte.
Der Arzt wandte verwirrt den Kopf zu Amalia. »Verzeihen Sie, mir war nicht klar, dass Sie von den Lippen lesen können. Ich dachte nur, weil Sie taub sind und auch nicht sprechen können …«
Amalia schloss kurz die Augen. Wie leid sie es manchmal war! Dann sah sie den Arzt an. Was ist mit mir? , ließ sie von Mary übersetzen.
»Nun, die Prellungen und Blutergüsse sind dabei zu verheilen. Sie wurden angegriffen, sagen Sie?«
Amalia nickte. Der schreckliche Vorfall lag erst vier Tage zurück, doch sie wurde seitdem immer wieder von Schwindelanfällen und Übelkeit geplagt, sodass sie heute beschlossen hatte, zum Arzt zu gehen. Edward wusste nichts davon, sie wollte ihn nicht beunruhigen.
Der Arzt warf ihr einen durchdringenden Blick zu. »Verzeihen Sie meine offene Frage, aber ist es bei diesem Angriff zu weiteren Zudringlichkeiten Ihnen gegenüber gekommen? Sind Sie vergewaltigt worden?«
Wiesen die Prellungen und blauen Flecke so eindeutig darauf hin, was Mr Beans vorgehabt hatte? Amalia schüttelte den Kopf. Nein, dazu ist es nicht gekommen.
Sie sah, wie der Arzt sich räusperte, und bemerkte seinen verlegenen Gesichtsausdruck. Und dann begriff sie plötzlich. Die Dolmetscherin schaute sie überrascht an. Amalia erhob sich abrupt. Keinen Moment hatte sie daran gedacht. Sie brauchte frische Luft.
Der Arzt sagte etwas, doch sie nickte ihm nur knapp zu und verließ eilig das Behandlungszimmer.
Sie lief hinunter zum Ufer der Themse, in schnellen Schritten, bis sie außer Atem war. Schließlich ließ sie sich auf eine Bank nieder. Eine Weile lang blickte sie auf die vorbeifahrenden Schiffe. Seitdem sie in London war, kam sie hierher, wenn sie emotional etwas bewegte. Sie mochte das Bild des Flusses, weil es sich immer veränderte – wie das Leben. Was sollte sie jetzt tun? Nachdenklich machte sie sich auf den Weg nach Hause.
Ungefähr auf der Höhe von St. Paul’s Cathedral spürte sie, dass ihr jemand folgte. Sie erstarrte. Schon gestern war es so gewesen und ein anderes Mal vor drei Tagen. Erst hatte sie voller Angst geglaubt, es sei erneut Mr Beans, doch dann hatte sie ihre Gegenwart gespürt. Als würden ihre Schwingungen Sie durch die Luft zu ihr tragen. Amalias Herz wurde schwer. Sie bemühte sich, mit gleichmäßigem Schritt weiterzulaufen. Zweimal blieb sie kurz vor einem Laden stehen, um sich unauffällig zu vergewissern, dass sie recht hatte. Einmal sah Amalia ihre Gestalt auf der anderen Straßenseite stehen. Sie drehte sich sofort hastig um, doch der kurze Augenblick hatte gereicht. Es schnürte Amalia die Kehle zu. Tief in ihrem Inneren hatte sie immer gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Vor ein paar Wochen hatte sie das erste Mal wieder von ihr geträumt. Sie waren immer miteinander verbunden gewesen, hatten gespürt, was in der anderen vorging. Warum sollte es jetzt auch anders sein?
Amalia lief weiter, ohne sich noch einmal umzuwenden. Sie wusste, dass sie ihr noch immer folgte, dichter als am Tag zuvor. An der nächsten Kreuzung lief Amalia um die Ecke, blieb stehen und drehte sich um. Im selben Moment kam sie auch schon hinter ihr her, bog um das Haus und lief fast in sie hinein. Die beiden Schwestern schauten sich an .
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C athleen saß in ihrem eleganten Seidenkleid neben ihr auf dem Sofa und weinte. Du lebst! Ich dachte, ich müsste mich täuschen, aber du bist es tatsächlich …
Ja, ich lebe, erwiderte Amalia und blickte ihre Schwester an, deren vornehme Erscheinung nicht recht in die bescheidene Wohnung passen wollte. Sie ergriff ihre Hand, und Cathleen ließ es zu. Einen Moment lang war die Verbundenheit zwischen ihnen stärker als alles andere. Amalia erinnerte sich an die unbeschwerten Kindertage in Sherwood und daran, wie viel sie ihrer Schwester verdankte. Sie hatte sie aus ihrer Einsamkeit befreit, nachdem sie taub wurde, und immer an ihrer Seite gestanden. Wie sehr wünschte sie, alles wäre anders gekommen!
Sie haben erzählt, dass du verunglückt seist, im Moor – dass du tot bist. Man sah Cathleen an, dass sie zu begreifen
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