Die Schwestern von Sherwood: Roman
kühl. Sie dankte dem Boten und öffnete den Brief, in dem ihr die Sekretärin des Chefredakteurs mitteilte, dass sie am kommenden Nachmittag einen Termin bei Herrn Scholz habe.
Den stechenden Blick von Frau Herder ignorierend, ging Melinda in ihr Zimmer zurück. Eine leichte Aufregung ergriff sie. Was würde Scholz wohl zu ihrer Reportage sagen? Als sie den Artikel abgab, hatte sie ein gutes Gefühl gehabt, aber nun war sie sich auf einmal nicht mehr so sicher, ob das Geschriebene seinen hohen journalistischen Ansprüchen genügen würde. Auf der anderen Seite würde Scholz sie wohl kaum zu sich bestellen, wenn ihm der Artikel gar nicht gefallen hätte.
Sie bemühte sich, die letzten Sätze der Protokolle zu übersetzen. Als sie später schlafen ging, streifte ihr Blick noch einmal die Schachtel mit den Schachfiguren. Wenn sie morgen früh die Übersetzungen zur Besatzungskommandantur gebracht hatte, würde sie noch genügend Zeit haben, um nach Dahlem hinauszufahren, überlegte sie. Ihr Termin beim Telegraf war erst um vier Uhr.
13
E inige zögerliche Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken, als Melinda am Morgen nach draußen trat. Die Temperaturen waren endlich etwas milder geworden. Sie lockerte erfreut ihren Schal, als sich ihr vor dem Haus unerwartet eine Männergestalt entgegenstellte.
»Na, wenigstens scheinst du ja hier noch zu schlafen!« Es war Frank. Der Ausdruck, der ihr aus seinen Augen entgegenschlug, ließ sie instinktiv zurückweichen.
»Was willst du hier, Frank?«
Er packte sie grob am Arm, und sie spürte seine Wut. »Glaubst du, ich lasse mir das gefallen? Dass du mich so hintergehst?«
»Ich hab dich nicht hintergangen! Lass mich los.« Melinda bemühte sich, ruhig zu bleiben. Wie hatte es zwischen ihnen nur so weit kommen können? Einen Moment lang schmerzte es sie, dass ihre Beziehung so enden musste. Dieses Gefühl erlosch jedoch schlagartig, als Frank keine Anstalten machte, sie loszulassen, sondern sie auch noch am anderen Arm packte, so fest, dass es wehtat. Melinda bekam plötzlich Angst. Mit aller Kraft versuchte sie, sich loszureißen, aber er war stärker als sie.
Höhnisch verzog er den Mund. Sie merkte, dass er nach Alkohol roch. Hatte er schon am Morgen oder sogar die ganze Nacht hindurch getrunken?
»Was denn, du wirst mir doch wohl einen kleinen Kuss schenken?«
»Frank … Bitte, lass mich!« Melinda spürte plötzlich, wie ihr die Tränen in die Augen traten, als neben ihnen ein Schatten sichtbar wurde.
»Lassen Sie die Dame in Ruhe!« Ein älterer Herr war auf der Straße stehen geblieben.
»Mischen Sie sich hier nicht ein! Das geht Sie nichts an«, stieß Frank hervor.
»Lassen Sie das Fräulein los, sofort – oder ich rufe die Polizei«, sagte der Herr erneut und hob dabei seinen Spazierstock. Überraschenderweise schien die Drohung Frank durch den Nebel des Alkohols hindurch zu erreichen – er nahm tatsächlich die Hände von ihr. Abfällig spuckte er auf den Boden.
»Ich will von diesem Flittchen sowieso nichts mehr«, sagte er und ließ sie stehen.
»Alles in Ordnung?«, fragte der ältere Herr einen Augenblick später.
Sie nickte und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ja. Danke für Ihre Hilfe.«
»Gern geschehen.«
Mit zittrigen Knien setzte Melinda ihren Weg fort und musste unterwegs immer wieder gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Franks Verhalten hatte sie aus der Fassung gebracht. Obwohl ihr in den langen Wochen, in denen sie sich schon mit dem Gedanken einer Trennung beschäftigt hatte, stets klar gewesen war, dass es nicht leicht werden würde, hatte sie nicht mit dieser Feindseligkeit gerechnet. Zum ersten Mal hatte sie richtig Angst vor ihm, und sie ahnte, dass er sie auch weiterhin nicht in Ruhe lassen würde.
Erst als sie das Gebäude der Besatzungskommandantur erreichte, hatte sie sich wieder etwas beruhigt.
Uniformierte Gestalten schwirrten überall auf den Treppen und Fluren des Gebäudes herum. Bei ihren ersten Besuchen hatte Melinda diese militärische Präsenz eingeschüchtert, doch inzwischen war sie daran gewöhnt. Obwohl sie nicht die einzige Zivilistin war, fühlte sie sich dabei trotzdem ein wenig seltsam.
Im Flur traf sie Major Colby, der sich in Begleitung zweier britischer Offiziere befand.
»Miss Leewald, how are you ? Wie geht es Ihnen?«, fragte er mit einem breiten Lächeln und seinem starken britischen Akzent. Er erkundigte sich, wie ihr Gespräch beim Telegraf gelaufen sei, und sie berichtete ihm
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