Die Schwestern von Sherwood: Roman
Melinda zu. »Und Sie interessieren sich also für die Märchen und Legenden hier?«, nahm er den Faden ihres Gesprächs auf.
»Ja, sie haben mich schon als Kind fasziniert«, gab Melinda mit einem Lächeln zu.
»Nun, die eigenwilligen Gesteinsformen, die die Natur hier entwickelt hat, und der geheimnisvolle Charakter des Moors waren wahrscheinlich schon immer dazu angetan, die Fantasie der Menschen anzuregen. Kein Wunder, dass hier so viele Märchen und Sagen erzählt werden. Meinen Sie nicht auch, Amy?«, wandte der Geologe sich an die Bedienung, die ihnen gerade die zwei Bier hinstellte und den letzten Satz mitbekommen hatte.
Amy schüttelte ihren roten Schopf. »Sie glauben, dass das alles nur Fantastereien sind? Da täuschen Sie sich. Sie sind hier nicht aufgewachsen und haben sich noch nicht in einer nebligen Nacht im Moor verirrt. Sonst wüssten Sie, dass es hier manchmal Dinge gibt, die man nicht erklären kann und die nicht in Ihren Büchern stehen. Bei allem Respekt!«
Melinda grinste. Offensichtlich schien Amy nicht allzu viel von der Wissenschaft zu halten.
Mr Fletcher zuckte in einer gottergebenen Geste die Achseln. »Nun, wie Sie sehen, hat Mrs Hudson in dieser Angelegenheit eine eindeutige Meinung«, stellte er humorvoll fest.
»In der Tat, das habe ich, Mr Fletcher. Ich habe schon mit meinen eigenen Augen die Irrlichter gesehen«, erwiderte Amy und zog ein Tuch aus dem Rockbund, mit dem sie vor ihnen den Tresen zu polieren begann.
Melinda verfolgte amüsiert den Wortwechsel. Es tat gut, hier zu sein, merkte sie. Es war ein Stück normales Leben, wie sie es seit Langem nicht mehr erlebt hatte. Das Bier wärmte sie angenehm von innen, und sie merkte, wie sie sich entspannte.
»Kennen Sie auch diese Legende über die Sherwood-Schwestern, Amy?« fragte sie neugierig.
Die Bedienung hielt für einen Augenblick in ihrer Bewegung inne. »Natürlich«, erwiderte sie dann. »Eine tragische Geschichte. Hat sich Ende des letzten Jahrhunderts ereignet. Die beiden Schwestern sind im Moor verunglückt. Nicht gleichzeitig, sondern mit knapp zwei Jahren Abstand. An den Unglückstagen soll das Wetter noch schlimmer gewesen sein als heute. Stundenlange Regenfälle – selbst die kleinsten Bäche sind zu reißenden Strömen geworden und das Moor so schlickig und vollgesogen, dass es die, die ihren Fuß dort reinsetzten, nicht mehr freigab …« Ihre Stimme hatte einen unheimlichen Klang angenommen, als wäre sie selbst dabei gewesen. Melinda umklammerte das Glas vor sich unwillkürlich etwas fester. »Mein Großvater hat mir davon erzählt. Es hieß, die eine Sherwood-Schwester hätte die andere nachgeholt«, fuhr Amy fort. Nachdenklich polierte sie weiter. »Amalia Sherwood, die Schwester, die zuerst ums Leben kam, hat man nie gefunden. Das Moor soll sie verschlungen haben … Ich erinnere mich, wie Grandpa erzählte, dass sie etwas Unheimliches an sich gehabt habe. Amalia Sherwood soll sehr schön gewesen sein und war immer allein im Moor unterwegs, als hätte sie irgendetwas dorthin gezogen und die Dämonen sie schon zu Lebzeiten zu sich gerufen.« Amy beugte sich ein Stück weiter vor. »Die Leute behaupten, dass man manchmal, in dunklen Nächten, sehen kann, wie ihre weiße Gestalt über das Moor wandelt!«
Melinda schluckte. Ein leiser Schauer lief ihr über den Rücken.
Mr Fletcher durchbrach die unheimliche Stimmung. »Hör sich einer solche Geschichten an!«, sagte er kopfschüttelnd.
Melinda grinste schief und enthielt sich einer Antwort. Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Bier.
Amy musterte den Geologen. »Mag ja sein, dass Sie solche Geschichten für reine Hirngespinste halten, Mr Fletcher, aber fest steht, dass hier keiner das Anwesen von Sherwood kaufen will, weil der Geist dieser Frau dort noch immer herumspukt.«
Melinda starrte die Bedienung an. Sie musste an ihren Traum denken – an die weiße, durchscheinende Frauengestalt, die sie in das Anwesen gewunken hatte.
»Wissen Sie, wem Sherwood gehört?«
Amy nickte. »Den Hamptons natürlich, oder vielmehr ihren Nachfolgern. Die Ehe zwischen Edward Hampton und Cathleen Sherwood ist kinderlos geblieben, und deshalb ist alles an seine Schwestern und deren Nachkommen gegangen. Ihnen gehört Sherwood heute«, gab sie bereitwillig Auskunft.
Ein Schatten tauchte hinter der Bedienung auf.
»Du redest zu viel, Amy!«, mischte sich eine tiefe Männerstimme ein.
Sie fuhr herum. »Hallo, Ned!«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange. »Mein
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