Die Schwestern von Sherwood: Roman
Schwager – Sie kennen sich wahrscheinlich schon, oder?«
Melinda nickte unbehaglich und versuchte, den finsteren Blick, den der Knecht der Bensons ihr über Amys Schulter hinweg zuwarf, zu ignorieren. Sie schaute zur Seite. Gegen ihren Willen schob sich dabei das Bild einer Frau vor ihre Augen, die allein im Moor unterwegs war.
AMALIA
37
Dartmoor, Sommer 1895
S ie lief – in großen, zügigen Schritten – und merkte, wie ihr dabei unter dem schlichten Umhang, über dem sie die Rolle mit ihren Malsachen trug, warm wurde. Im Laufen streifte Amalia die Kapuze ab und schüttelte ihr langes Haar, das noch immer denselben hellen Blondton aufwies wie in ihren Kindertagen.
Die Sonne strahlte, und Amalia spürte, wie der Wind sanft über ihre Haut strich, beinahe als streichele er sie. Wie so oft hatte es sie nach draußen gezogen. Ein Duft nach feuchtem Gras und Moos lag in der Luft, und ihre Augen sogen die Weite und die eigenwillige Schönheit der Landschaft um sie herum auf. In einiger Entfernung konnte man die Spitzen eines Steinkreises erkennen, ein Überbleibsel aus grauer Vorzeit, wie es sie im Dartmoor noch zahlreich gab. Weiter rechts zeigten sich am Horizont dagegen die Felsen von Haytor, und auf der anderen Seite, etwas hinter ihr, befand sich Whistman’s Wood. Die Leute fürchteten sich vor dem Wald mit seinen seltsam verformten Bäumen, um den sich so viele unheimliche Geschichten rankten. Sie mieden ihn, doch Amalia kam genau deshalb hierher – weil sie sicher sein konnte, niemandem zu begegnen.
Außer Atem blieb sie oben auf dem Hügel stehen und stellte fest, dass die Bilder des unerfreulichen Traums, mit denen sie am Morgen erwacht war, endlich verblassten. Sie hatte von Mr Beans geträumt. Warum nur blieben die Erinnerungen an die schlimmen und schrecklichen Dinge so viel länger und besser im Kopf?, überlegte sie. Als wäre es erst gestern gewesen, entsann sie sich noch immer, wie Mr Beans sie in seinem Unterricht gequält hatte. Dabei lag es über dreizehn Jahre zurück. Damals hatte sie beschlossen, nicht mehr zu sprechen. Warum hätte sie auch sollen? Jedes Wort, das sie von sich gab, schien ihr nur Spott, Demütigung und Verletzungen einzubringen, und das Gesicht ihrer Mutter, die sie früher mit so viel Stolz und Liebe angeschaut hatte und die es dann auf einmal kaum ertragen konnte, wenn sie sprach, hatte sich bis heute in ihr Gedächtnis gegraben.
Anfangs hatten ihr alle noch gut zugeredet – auch Mr Beans. »Du musst nur üben, dann schaffst du es auch«, hatte er gesagt und ihr auf seine widerwärtige Art die Wange getätschelt. Doch sie hatte die Lippen standhaft zusammengepresst. Schließlich hatte der Lehrer ihre Eltern darüber informiert. Ihr Vater hatte sie streng zurechtgewiesen, sie konnte es an der Mimik und seinen Augen erkennen, auch wenn sie die Worte nicht von seinen Lippen zu lesen vermochte, weil er so schnell sprach. Ihre Mutter, die sie teilnahmslos musterte, hatte schließlich etwas zu ihrem Vater gesagt, das diesen dazu brachte, von ihr abzulassen. Ein hilfloser Ausdruck war über sein Gesicht geglitten.
Auch Miss Carrington und Cathleen hatten auf sie eingeredet, aber Amalia blieb standhaft.
Ihre Entschlossenheit versetzte Mr Beans, der im gleichen Maße um seinen Job wie um seine Macht über sie fürchtete, in zunehmende Wut.
»Du kleines Biest, wenn du glaubst, du wirst mich so los, dann täuschst du dich!«
Es war ein ungleicher Kampf, denn er war ein erwachsener Mann und sie ein Kind, das seiner Autorität ausgeliefert war. Doch es war genau in jener Zeit, in der sich ihre innere Kraft und Stärke schmiedete. Immer seltener gelang es Mr Beans, sein falsches Lächeln aufzusetzen, mit dem er die anderen so gut zu täuschen wusste. Er begriff nicht, wie sie es wagen konnte, sich ihm zu widersetzen. Amalia hatte gespürt, wie es unter seiner Fassade brodelte, und obwohl sie von Furcht davor erfüllt war, was wohl geschehen würde, wusste sie, dass es keinen anderen Weg gab.
Nach und nach zerfiel seine Maske, und darunter kam sein wahres Gesicht zum Vorschein. Er schlug sie – hinter verschlossenen Türen, damit es die anderen nicht sahen –, und er fasste sie immer öfter an. Auch unter ihrem Rock. Vor Demütigung schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie war voller Angst, sobald sie mit ihm allein war, nachts quälten sie Albträume, und sie zitterte, wenn sie zu ihm gehen musste. Doch sie presste die Lippen weiter fest zusammen und blieb dabei –
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