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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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Antiquitäten bestand, ließ Melinda für einen kurzen Augenblick an die ärmliche Welt in Berlin denken, aus der sie selbst kam.
    Die rechte Hand auf einen schwarzen Stock mit silbernem Knauf gestützt, stand Evelyn Finkenstein aufrecht vor ihr und strahlte in ihrem hellblauen Kleid und der Perlenkette die Eleganz vergangener Zeiten aus. Ihr weißes Haar umrahmte ein faltiges Gesicht, dessen zeitlose Schönheit sich jedoch noch immer in ihren Zügen spiegelte.
    »Beatrice hat recht – Sie sehen Ihrer Mutter sehr ähnlich«, sagte sie mit einer überraschend rauen Stimme, nachdem sie Melinda mit wachem Blick genauer in Augenschein genommen hatte. »Leider ist es lange her …« Sie lächelte.
    Die drei Frauen nahmen wieder Platz und wechselten einige Sätze höflicher Konversation.
    »Meine Tochter sagte mir, Sie möchten gern wissen, warum Ihre Großmutter damals mit uns nach Berlin gegangen ist?«, kam Mrs Finkenstein schließlich auf den eigentlichen Anlass ihres Besuchs zu sprechen.
    Melinda nickte. Sie merkte, dass sie angespannt war.
    »Ja. Es erschien mir sehr ungewöhnlich, dass eine Frau mit einem so kleinen Kind ihre Heimat verlässt, und wie ich hörte, gab es Gründe dafür. Meine Großmutter wollte irgendetwas hinter sich lassen. Wissen Sie vielleicht, was genau das war?«
    Mrs Finkenstein schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, ich muss sie leider enttäuschen. Ihre Großmutter hat uns nie mitgeteilt, was in ihrem Leben zuvor geschehen war. Es hat für uns auch keine Rolle gespielt. Mein Mann und ich, wir waren glücklich, einen Menschen wie sie für Jacob gefunden zu haben …« Sie brach kurz ab, denn ein Dienstmädchen mit einem Silbertablett war hereingekommen und brachte ihnen etwas zu trinken. Sie reichte der Bankdirektorin einen durchsichtigen Drink mit Eis und schenkte der alten Dame Tee ein, bevor sie Melinda nach ihren Wünschen fragte. Sie wollte nur ein Glas Wasser.
    »Ihre Großmutter war ein sehr besonderer Mensch – voller Wärme. Jacob ist an ihrer Seite aufgeblüht«, fuhr Evelyn Finkenstein fort, als sie wieder allein waren.
    Für einen kurzen Moment erinnerte sich Melinda an das alte Foto, das sie einmal von ihrer Großmutter gesehen hatte. Die Worte von Evelyn Finkenstein lösten widersprüchliche Gefühle in ihr aus – einerseits war sie enttäuscht, weil sie nichts Näheres über die Vergangenheit ihrer Großmutter erfuhr, andererseits freute sie sich zu hören, was für ein Mensch Helene Griffith gewesen war.
    »War Jacob von Geburt an taub?«, erkundigte sich Melinda vorsichtig.
    Beatrice Finkenstein, die sich in dem Gespräch bis jetzt zurückgehalten hatte, schüttelte den Kopf und antwortete anstelle ihrer Mutter: »Nein, mein Bruder hatte im Alter von drei Jahren eine Gehirnhautentzündung. Die Taubheit war eine Folge davon.«
    Evelyn Finkenstein nickte. »Es war sehr schwierig. Wir waren anfangs völlig überfordert mit der Situation. Alle Experten machten uns klar, dass es nur eine Möglichkeit gäbe, ihn zu fördern und zu unterrichten, nämlich nach der sogenannten oralen Methode.«
    Beatrice Finkenstein bemerkte Melindas verständnislosen Blick und kam ihr zu Hilfe. »Es gibt zwei sehr unterschiedliche Ansätze in der Erziehung von Tauben, müssen Sie wissen. Die gängige wissenschaftliche Meinung plädiert jedoch bis heute dafür, dass ein taubes Kind unter allen Umständen sprechen und von den Lippen lesen lernen soll, damit es sich in der Gesellschaft der Hörenden integrieren kann«, erklärte sie.
    Melinda nickte, da ihr das durchaus einleuchtend erschien.
    Evelyn Finkenstein blickte sie an. »Jacob hatte aber große Schwierigkeiten damit. Es kostete viele Stunden, ihn die endlosen Laut- und Sprechübungen machen zu lassen, und noch mehr Zeit, ihm beizubringen, von den Lippen zu lesen. Seine Fortschritte waren sehr begrenzt, und er wurde zunehmend verstörter …« Die alte Dame strich mit angespannter Miene ihren Rock glatt und schien einen Augenblick lang alles wieder genau vor sich zu sehen. »Ich spürte, dass mein Sohn unglücklich war, und ich litt sehr darunter, dass er mir gleichzeitig zunehmend fremder wurde. Sehen Sie, das Verhältnis zu meinen anderen Kindern war emotional immer sehr eng, aber es gelang mir einfach nicht, zu Jacob auf die gleiche Weise eine Beziehung aufzubauen.« Ein schmerzvoller Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Ich war sehr verzweifelt. So sehr, dass ich mir eines Tages keinen anderen Rat wusste, als mir Wachs in die Ohren zu

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