Die Schwestern von Sherwood: Roman
stopfen und mich neben meinen dreijährigen Sohn auf den Boden zu setzen, damit ich verstand, wie er die Welt wahrnimmt. Ich begann, nicht nur zu begreifen, was ich falsch machte, sondern auch, wie einsam Jacob war und dass er sich mit dieser Unterrichtsmethode als Mensch niemals würde entfalten können.«
Melinda schaute sie an. Die Vorstellung, wie sie mit ihrem Sohn auf dem Boden saß, hatte etwas Berührendes.
»Und dann haben Sie meine Großmutter eingestellt?«
Mrs Finkenstein nickte. »Wir wollten, dass Jacob mit jemandem Kontakt hat, der auf die gleiche Weise kommuniziert wie er, und dass er die Gebärdensprache lernt. Mein Mann war anfangs zögerlicher als ich, doch was ihn schließlich überzeugte, war die Erkenntnis, dass Jacob so viel Zeit dafür aufwenden musste, sprechen zu lernen, dass er damit nur schwer eine durchschnittliche Schulbildung erlangt hätte. Mein Mann nahm Kontakt mit einer nicht offiziellen Organisation in London auf, die Tauben half, eine eigene Existenz aufzubauen, und die auch Lehrer für die Gebärdensprache vermittelte, die selbst taub waren. Über sie kam Ihre Großmutter zu uns. Es war überwältigend zu sehen, wie Jacob sich an ihrer Seite veränderte.« Ein Lächeln glitt über das faltige Gesicht von Evelyn Finkenstein. Noch immer spiegelte sich die Dankbarkeit in ihren Zügen.
Melinda hatte plötzlich einen trockenen Mund. Sie trank einen Schluck Wasser.
»Und meine Großmutter – sie hat wirklich nie irgendetwas von ihrer Vergangenheit erwähnt?«
Mrs Finkenstein schüttelte den Kopf. »Nein, auch wenn man manchmal das Gefühl hatte, dass sie tief in ihrem Inneren etwas bedrückte und sie traurig war. Doch auf der anderen Seite dürfen Sie nicht vergessen, dass sie ein kleines Kind hatte, ihre Mutter – und auch noch Jacob. Ihnen beiden hat ihre gesamte Aufmerksamkeit gegolten.«
Melinda nickte. Der alten Mrs Finkenstein blieb nicht verschlossen, dass sie gehofft hatte, mehr zu erfahren.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht so weiterhelfen kann, wie Sie es sich vielleicht gewünscht hätten. Mein Mann hat eine umfangreiche Korrespondenz mit dieser Organisation in London geführt, die ich noch besitze. Ich könnte sie einmal heraussuchen.«
»Das wäre sehr nett«, sagte Melinda, obwohl sie sich nicht viel davon versprach. Sie war trotzdem froh, die Geschichte über Jacob gehört zu haben, dachte sie. Ein Bild ihrer Großmutter war in ihrem Kopf entstanden, und sie verspürte plötzlich den Wunsch, sie gekannt zu haben.
»Ich bin sicher, Ihre Großmutter hat ihre Gründe gehabt, warum sie nie darüber gesprochen hat, was in ihrer Vergangenheit passiert ist«, sagte Mrs Finkenstein, als sie sich wenig später verabschiedeten. »Ohne Frage muss es sie sehr mitgenommen haben. Sonst hätte sie sicherlich nicht ihren Namen geändert.«
Melinda glaubte, sich verhört zu haben. Sie starrte die alte Dame an. »Sie hat was ?«
»Ihren Namen – sie hat ihn verändert.«
Mrs Finkenstein schien einen Augenblick zu brauchen, bevor sie begriff, welche Bedeutung diese Information für die junge Frau hatte. »Verzeihung, ich dachte, das wüssten Sie. Sonst hätte ich es Ihnen natürlich sofort gesagt.«
Melinda schüttelte den Kopf. Ihre Kehle fühlte sich plötzlich wie zugeschnürt an. Ihre Großmutter hatte ihren Namen geändert? Warum? Was um Gottes willen war damals nur geschehen?
AMALIA
44
Dartmoor, Sommer 1895
E r beschäftigte sie. Schon seit der ersten Begegnung. Sein Gesicht mit dem schwarzen Haar und den aufgewühlten blauen Augen wollte nicht aus ihrem Kopf. Amalia schalt sich albern – er war nur ein Unbekannter, dem sie auf einem Hügel begegnet war. Doch sie hatten sich seitdem einige Male von Weitem im Moor gesehen. Er schien die Einsamkeit genauso zu lieben wie sie. Wie zufällig schienen sich ihre Wege immer wieder zu kreuzen. Amalia fragte sich, ob er vielleicht erst seit Kurzem in die Gegend zurückgekehrt war, denn sie war ihm früher bei ihren Ausflügen nie begegnet.
Wenn er sie bemerkte, lüftete er den Hut und grüßte sie. Ein, zwei Mal hatte sie spüren können, wie er sie aus der Ferne beobachtete, doch dann, als sie sich zu ihm drehte, war er wieder verschwunden. An einem Nachmittag hatte sie an einem Felsen in der Sonne gesessen und gelesen, als er auf seinem Pferd nicht weit entfernt von ihr auftauchte und stehen blieb. Er blickte sie an – auf diese eindringlich intensive Weise – und schenkte ihr ein Lächeln, bevor er
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