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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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umzubringen?«
    Borimir senkte betroffen den Kopf: »Fräulein, manchmal seid ihr Frauen in der Lage …«
    In diesem Augenblick erschien Kirill in der Tür. Er wirkte sehr zufrieden. »Ich weiß jetzt, was diese Zahlen bedeuten!«
    Vor Aufregung ließ Nadja das Messer zu Boden fallen.
    Â»Und was?«
    Â»Geografische Koordinaten.«
    Â»Wie bist du darauf gekommen?«
    Â»Die Frage ist: Wieso bin ich nicht schon früher draufgekommen«, erwiderte Kirill kopfschüttelnd.

52
    London, Madame Iv Lilys BüroSonntag, 2. Januar, 16.15 Uhr
    Was war daran nun so besonders? Victoria starrte auf die Papierschnipsel, die Madame aus einem Holzkästchen hervorgeholt und vor ihren Augen sorgfältig auf einer der Seiten des Ogham-Übungsheftes ausgebreitet hatte.

    Â»Was haben sie deiner Meinung nach zu bedeuten?«, fragte Iv.
    Â»Lass uns besingen die Landschaft«, begann Victoria, die sich an den Unterricht mit Raye im Naturkundemuseum erinnerte. »Die frische Luft zwischen den Blättern, die Hügel, Höhen und Berge, ja die Gebirgslandschaft, lass uns besingen die Jahreszeiten, den Herbst des Meeres, die Küste, den Klippenrand, die Wellen. Die Bäume, die hohen Bäume, die Bäume am Wegesrand, die Obstbäumchen.«
    Dann hielt sie inne. Sie hatte den Baum wiedererkannt, mit dessen Hilfe sie sich zum ersten Mal in Einklang gebracht hatte. Eine einfache Silbe, die, in der richtigen Weise ausgesprochen, ihr Innerstes in Aufruhr versetzt hatte. Sie begann zu zittern: Wenn es dieses scheinbar so unbedeutende Zeichen geschafft hatte, sie derart aufzuwühlen, war gar nicht auszudenken, was all die anderen zusammen auslösen könnten. »Es sind Zeichen für die Ogham-Aussprache?«, schlug sie vor.
    Â»Ja und nein. Ich glaube, du weißt es besser«, ermahnte sie die Lehrerin mit einem verschmitzten Augenzwinkern.
    Victoria nahm einen der Papierschnipsel aus dem Heft. Die Ähnlichkeit mit einer Biene faszinierte sie.

    Sie betrachtete das Zeichen eingehend. In dem Unterricht bei Madame war nichts so, wie es schien, hinter allem verbarg sich eine Bedeutung. War es also wirklich eine Biene? Sie blätterte das Heft von hinten nach vorne durch, bis sie zur ersten Seite kam: dem Vers aus dem Lied von Amergin.

    Erneut fiel ihr Blick auf den Baum unter der Silbe Am, dem Buchstaben Ailm.
    Â» Wenn man es als Partitur sieht, könnten die Symbole vielleicht Pausen darstellen?«
    Â»Das hieße …«
    Â»Dass es Zahlen sind?«, überlegte Victoria.
    Â»Für welche Zahl würde dieses Symbol dann stehen?«, bohrte Madame weiter.
    Victoria zählte die Streifen auf dem Leib der Biene.
    Â»Vier?«
    Â»Ganz einfach, oder?«, rief Madame zufrieden. »Die Ogham-Zahlen kommen nach dem Alphabet. Sie sind sozusagen moderner. Anfangs waren sie ganz anders, als du sie jetzt siehst. Im Lauf der Jahrhunderte sind sie für uns zu etwas Neuem geworden, zu etwas, das nicht nur dazu diente, die Tempi eines klangvollen Satzes oder Taktes vorzugeben. Sie haben sich zu einem Code entwickelt. Die Biene, die du ausgewählt hast, heißt zum Beispiel Úr oder Erika, denn alle Ogham-Zahlen sind durch die Pflanzenwelt inspiriert. Schau dir die Zahl Coll, die Haselnuss, an: Du erkennst sofort, welch offenkundige Ähnlichkeit zu der arabischen Zahl 9 besteht.«

    Victoria nahm den Schnipsel mit dem Symbol zwischen die Finger. Sie war neugierig, aber auch ängstlich.
    Â»Diese Zeichen wirst du in keinem Buch finden, Victoria. Es gibt keine Quellen, die deren Gebrauch in früheren Zeiten belegen. Aber sie sind real und wirkungsmächtig, wie du am eigenen Leib gespürt hast. Nur wir wissen von ihrer Existenz.«
    Victoria fühlte sich geehrt. Aber was würde es bedeuten, in dieses Geheimnis eingeweiht zu sein? Sicherlich eine große Verantwortung und harte Arbeit, um mit der Macht und vielleicht auch mit der Einsamkeit umgehen zu können, die daraus erwuchsen.
    Madame riss sie aus ihren Gedanken. »Kehren wir zu dem Vers aus dem Lied von Amergin zurück. Hör mir jetzt gut zu. Du musst ganz sicher sein, dass du weitergehen willst, denn wenn dich das, was du bei jenem Versuch erlebt hast, zu sehr aufgewühlt hat, könnte ein weiterer Schritt schnell zu viel werden.«
    Victoria antwortete nicht. Ihr Blick streifte von dem prosodischen Übungsheft zu den Augen der Lehrerin. Mit einem Schlag wurde das große, helle

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