Die Schwesternschaft
eine unverzeihliche Sünde, während der Arbeit beim Trinken erwischt zu werden.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung â¦Â«, begann er, aber Nadja brachte ihn mit einer freundlichen Geste zum Schweigen.
Borimir rührte sich nicht.
»Das macht nichts«, versicherte sie. »Ich werde dich deswegen sicher nicht verurteilen. Wir sind alle ziemlich mitgenommen.«
Borimir senkte beschämt den Kopf.
Nadja öffnete den groÃen Kühlschrank. »Ich mache mir etwas zu essen â¦Â«
»Das sollen Sie nicht, Fräulein! Warten Sie, ich rufe den Koch.«
»Das mache ich schon selbst. Ich mag jetzt keine Leute um mich haben.«
Der Butler nickte. »Wie Sie wünschen. Ich werde Sie gleich allein lassen«, sagte er und steuerte auf die Tür zu.
»Wenn du möchtest, kannst du ruhig hierbleiben. Aber ich mache mir selbst etwas. Nur eins: Wo habt ihr das Schwarzbrot?«
»In der Anrichte, unten links«, erklärte Borimir.
»Danke.«
Nadja öffnete die Anrichte. In Anabah hatte sie in der Kantine gegessen, aber was es dort gab, waren keine Mahlzeiten. Man ernährte sich, und das warâs. Ohne Genuss und oftmals durch einen Notruf unterbrochen.
Nadja nahm das Brot, holte eine Kolbassa und eine Tomate aus dem Kühlschrank. Alles war ganz frisch und von bester Qualität, ganz dem Stil des Hauses Derzhavin entsprechend. Bestimmt eine sehr kostspielige Haushaltsführung, dachte sie, wobei ihr auffiel, dass sie nicht einmal wusste, wie viele Leute in der Villa arbeiteten. Ganz zu schweigen von all den anderen Aktivitäten des Vaters und den darin involvierten Personen: Angestellte, Geschäftspartner, Politiker und ⦠Kriminelle. Vielleicht war sie dumm gewesen zu glauben, dass sie all das nichts anging. Es ist leicht, Augen und Ohren zu verschlieÃen, wenn man über viertausend Kilometer weit von zu Hause entfernt ist. Aber jetzt war sie hier. Was würde geschehen, wenn ihr Vater starb? Wie würde es für sie weitergehen? Wäre sie in der Lage, die Dinge in die Hand zu nehmen?
Nachdem sie Brot und Salami aufgeschnitten hatte, nahm sie die Tomate und griff nach einem frischen Messer. Sie starrte es an und erschauderte.
Dieses einfache Küchengerät konnte sich in der Hand von Leuten wie Kirill oder Taras in eine tödliche Waffe verwandeln. Als sie die Tomate in Scheiben schnitt, erinnerte sie der rote Saft an das Blut, das nach einem Schnitt mit dem Skalpell austrat. Sie musste an ein paschtunisches Mädchen denken, das unter ihren Händen gestorben war. Es hatte ausgesehen, als habe ein Hai ihre Brust zerfetzt. Nadja verdrängte dieses Bild, aber andere tauchten empor. Die Nacht, in der Kirill sie an die Hand genommen hatte, die Stimme der Mutter bei ihrem letzten Telefonat, erneut der ungläubige Blick Flavios kurz vor seinem Tod, und schlieÃlich ihr Vater, intubiert. In ihrem Kopf drehte sich alles, und sie musste sich hinsetzen.
Borimir bemerkte es: »Fühlen Sie sich nicht gut, Fräulein?«
Einen kurzen Augenblick, die Zeit, die sie brauchte, um sich zu erholen, schwieg sie. Dann fragte sie den Butler unvermittelt: »Meinst du, mein Vater hat sich verändert?«
»Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihre Frage nicht ganz verstanden â¦Â«, druckste Borimir herum.
Nadja wurde konkreter: »Ist Papa, seit ich von zu Hause fort bin, irgendwie anders als vorher?«
Borimir dachte nach: »Soweit ich sehe, nein. Er hat die Tätigkeit seiner Angestellten immer sehr gerecht beurteilt. Und ich habe nie bemerkt, dass er sich anders verhält als sonst â¦Â«
Nadja blieb, trotz des erneuten Missverständnisses, hartnäckig: »Hat er mich, in deinen Augen, jemals vermisst?«
Borimir seufzte: »Tagtäglich, Fräulein. Er hat sich über Ihre Arbeit in Afghanistan immer auf dem Laufenden gehalten, hat die Nachrichten mit Spannung verfolgt, ganz davon zu schweigen, wie erleichtert er wirkte, wenn er Ihre Stimme am Telefon hörte.«
Nadja lächelte bitter. Was Borimir sagte, stimmte, aber sie wusste auch, dass sie sich meistens hatte verleugnen lassen, wenn der Vater sie anrief.
»Warum hat er meine Mutter so schamlos betrogen?«
Borimir wich erneut aus: »Er hat Ihre Mutter aufrichtig geliebt. Sie war wirklich eine auÃergewöhnliche Frau, auch wenn sie keine Russin war.«
»Und das hat er ihr bewiesen, indem er sie mit einer Frau betrog, die versucht hat, ihn
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