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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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verwandelt, als wenn ihr das, was sie erzählen wollte, sehr viel Mühe bereiten würde. Victoria fühlte sich hin und her gerissen. Einerseits war sie glücklich, denn zum ersten Mal, seit sie mit dem Unterricht begonnen hatten, schien die Lehrerin wirklich zufrieden mit ihr zu sein. Andererseits hatte sie auch Angst. Sie bereute es, so impulsiv gewesen zu sein, aber sie hatte immer wieder Entschlossenheit an den Tag gelegt, und nun musste sie bis zum Ende gehen.
    Â»Victoria, das, was ich dir nun offenbaren werde, ist ein Geheimnis, das du nach unseren Geboten eigentlich erst viel später erfahren dürftest. Aber ich bin gezwungen, es dir jetzt schon zu verraten, da ich nicht weiß, wann wir mit unserem Unterricht fortfahren können. Vielleicht niemals.«
    Diese letzten Worte trafen Victoria wie ein Faustschlag in den Magen. »Warum?«
    Â»Weil das, was du nun erfahren wirst, etwas ist, wofür man getötet hat. Und vielleicht noch immer tötet. Ich spreche von einem Buch. Dem Buch der Blätter. «

53
    Grafschaft Windsor, Fearn House
Sonntag, 2. Januar, 23.52 Uhr
    Der Schatten der jahrhundertealten Eiche glitt langsam über die Wiese und gab das Profil der Villa frei, die sich im Mondlicht, inmitten des Parks, in all ihrer Pracht abzeichnete.
    An der Westseite, vier Meter unterhalb einer halb von einem Grasmantel verdeckten Öffnung aus Stein, befand sich die Krypta. Dort lag, auf einem mit schwarzem Stoff drapierten Altar, die Scheibe einer Monduhr mit den in das Eichenholz eingebrannten Markierungen der Nachtstunden. Nur der Zeiger fehlte.
    Davor, auf dem feuchten, gestampften Boden, befand sich eine kreisförmige Granitplatte, in die dreizehn Strahlen eingemeißelt waren. Dreizehn absolut gleichmäßige Kreissegmente aus Stein. In der Mitte, in einer mit Torfglut angefüllten Vertiefung, brannte ruhig und gleichmäßig ein kleines Feuer. Es gab kaum Wärme ab und loderte nur hin und wieder auf. Direkt über der Glut hing ein Kupferkessel an einer vom Ziegelgewölbe herabhängenden Kette. Er war mit einem weißen Lammfell bedeckt, sodass man den Inhalt nicht sehen konnte und die Wärme der Herdstelle eingefangen wurde.
    Ringsum standen drei Gestalten, die aussahen wie Statuen, eine in Richtung Osten, eine nach Süden und eine nach Westen. Sie trugen knöchellange schwarze Gewänder mit aufgestickten Ogham-Zeichen und spitzen Kapuzen, die lediglich zwei Schlitze in Augenhöhe freiließen: Ihre Blicke waren auf die Monduhr gerichtet. Zur Rechten einer jeden Gestalt standen drei Armleuchter mit großen erloschenen Kerzen: im Süden eine, im Westen zwei und im Osten drei Kerzen. Der Norden war leer.
    Dieser in das Erdreich der alten Grafschaft Windsor gegrabene Raum diente ursprünglich als Kohlenkeller, war jedoch seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr in Betrieb. Aber es hing noch immer der Geruch von Steinkohle in der Luft, und die Wände waren mit einer feinen Schicht Kohlestaub bedeckt.
    Die Dunkelheit umschloss alles: Nur ein blasser Mondstrahl drang von oben durch die einzige Öffnung hinein, deren katzenaugenförmiger Umriss auf die Scheibe der Monduhr projiziert wurde. Beinahe unmerklich und wie von einem außergewöhnlichen Magnetismus angezogen, bewegte sich das Katzenauge auf die Markierung für Mitternacht zu.
    Alles war still und in Erwartung jener geheimnisvollen Begegnung zwischen dem Mondlicht und der mitternächtlichen Stunde.
    Kaum hatte der Strahl sein Ziel erreicht, tauchte aus der Tunika im Osten ein weißer Frauenarm hervor, der einen Tannenzweig hielt. Die Frau stieg auf die Steinplatte und hielt ihn über die Glut, bis er Feuer fing. Der Duft nach frischem Harz erfüllte die Luft, und das neu entzündete Licht hob die Dinge aus der Dunkelheit hervor.
    Dann bewegte sich die Gestalt langsam um die Scheibe herum in Richtung Süden und zündete die Kerzen an: eine Flamme im Süden, zwei im Westen. Sie durchschritt den noch immer dunklen Norden, kehrte schließlich an ihren eigenen Platz zurück und zündete die drei Kerzen des Armleuchters an. Der nunmehr verbrannte Zweig glitt zu Boden und erlosch.
    Die drei Gestalten nahmen gleichzeitig die Kapuzen ab und legten sie auf den Boden. Es waren reife Frauen, aber in jenem flackernden Licht schienen sie kein Alter zu haben. Mit sicheren Gesten, als seien sie perfekte Chortänzerinnen, zogen sie die Gewänder aus. Auf ihre

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