Die Schwesternschaft
Büro von Madame klein und beengt wie eine Zelle, in die nur ein schwacher Lichtschein eindrang. Sie befand sich darin, wehrlos und verängstigt: Wollte sie wirklich fortfahren? War sie alldem gewachsen? Sie wusste es nicht, aber in ihrem Innersten wünschte sie sich, jede Einzelheit, jedes Geheimnis zu entdecken, das Madame ihr zeigen würde.
»Als ich die erste Silbe aus dem Lied von Amergin, beginnend mit dem Buchstaben Ailm, ausgesprochen habe, ging es mir schlecht«, gestand sie. »Ich hatte nicht damit gerechnet. Aber jetzt, nach dieser Erfahrung, habe ich nicht die Absicht innezuhalten. Wenn Sie mich davor warnen wollen, was ich entdecken könnte, so kann ich Ihnen versichern, Madame, dass ich auf alles gefasst bin.«
Iv nickte. »Ich freue mich sehr über deine Entschlossenheit.« Sie reichte ihr die Hand und lieà sich das prosodische Ãbungsheft mit den ausgeschnittenen Symbolen zurückgeben. Sie nahm die Biene in die Hand und betrachtete sie einige Sekunden lang. »Erika. Hier im Vereinigten Königreich gibt es reichlich davon. Aber ist etwas, das in groÃer Menge vorhanden ist, weniger wertvoll als etwas, das sich schwer beschaffen lässt?«
Die Frage brachte Victoria aus dem Konzept. Wenn Iv Gold, Platin, Diamanten im Kopf hatte ⦠so traf das absolut zu. Aber der Wert, auf den sie anspielte, war sicherlich ein anderer: Er betraf nicht Geld, sondern Macht.
»Die Luft«, sagte Vicoria.
»Kannst du dich genauer ausdrücken?«
»Luft ist in groÃer Menge vorhanden, und dennoch ist sie kostbar, weil wir ohne sie nicht leben können. Die Antwort auf Ihre Frage lautet also, dass alles, was Leben ist, kostbar ist. Die anderen Werte zählen nicht.«
Madame lächelte ihr zu. »Erika ist eine Sommerblume, die sich von selbst ausbreitet und die man mit Bienen, mit Honigduft und flachen Nebelbänken in Verbindung bringen kann. Anchises, der Vater des Aeneas, begegnete Venus auf einem Berg, um den die Bienen summten. Dort liebten sie sich, und aus ihrer Begegnung entstand eine Legende. Welch Ironie ⦠dieselben Bienen stachen Anchises in die Augen und lieÃen ihn erblinden, zur Strafe dafür, dass er eine Göttin geliebt hatte.«
Victoria hatte Mythen stets auf einer Stufe mit Lehrmärchen gesehen, bei denen der Mensch stets vor seinen Versuchungen gewarnt wird. Also musste auch sie sich vor ihren Wünschen in acht nehmen. Jede Unterrichtsstunde mit Madame führte sie tiefer in eine Welt, aus der es irgendwann kein Zurück mehr geben würde.
»Bienen spielten in der gesamten Antike eine wichtige Rolle«, fuhr Iv fort, »auch bei den keltischen Völkern. Sie galten als Götterboten und Ãberbringer des Heiligen Feuers. Ohne sie wären wir selbst heute noch vom Aussterben bedroht, da die Blüten nicht mehr bestäubt würden. Keine Blüten, keine Früchte.«
Victoria nutzte die Pause, um eine Frage zu stellen: »Aber wenn sie so wichtig sind, weshalb sind sie dann nie als göttlich verehrt worden? Normalerweise wird etwas, das als kostbar gilt, sehr schnell zum Heiligtum erklärt, aber soweit ich weiÃ, gibt es keinen Gott in Bienengestalt.«
»Soweit du weiÃt, nein«, wiederholte Madame. »Aber vor nicht allzu langer Zeit hat man am Fuà der Pyrenäen eine Inschrift gefunden, die einer Gottheit namens Abellio geweiht ist. Im Französischen heiÃt Biene abeille . So hatten also auch die Bienen etwas Göttliches.«
Victoria fühlte sich wie ein anmaÃendes Kind, das versucht hatte, die Lehrerin zu beeindrucken. Aber sie hatte keine Zeit, sich darüber weiter Gedanken zu machen, denn Madame erhob sich und trat auf sie zu: »Du siehst also, dass man auch das, worüber man in groÃer Menge verfügt, als kostbar erachten kann. Fahren wir also fort, denn wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns. Und meine Zeit mit dir ist beinahe um.«
»HeiÃt das, Raye kehrt zurück?«, fragte Victoria hoffnungsvoll.
»Nein, das nicht. Aber sei unbesorgt, wenn alles gut geht, wirst du sie bald wiedersehen. Doch kommen wir nun zu uns zurück.«
»Ich bin bereit, Madame«, erklärte Victoria entschlossen.
»Gut. Deine Unterweisung läuft besser als erwartet. Du bist nunmehr für eine wichtige Enthüllung bereit. Für etwas, von dem nur wir wissen.«
»Wir?«
»Wir Schwestern.«
Madames Stimme hatte sich in ein Flüstern
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