Die Schwesternschaft
zieht. Aber du musst mir zeigen, dass ich dir weiterhin blind vertrauen kann. Stattdessen erzählst du mir, dass du mich beinahe verraten hättest â¦Â«
»Aber ich habe es nicht getan, ich schwöre es â¦Â«
Es folgte eine Pause.
»Borimir? Bist du noch dran?«
Lena hörte einen tiefen Seufzer.
»Mister Rotchko hat etwas herausgefunden«, offenbarte ihr der Butler.
Lena horchte auf. »Wovon sprichst du?«
»Sie haben geografische Koordinaten.«
Sie erstarrte. Unmöglich. Wie waren sie ohne den Bühnenprospekt darauf gekommen? »Hast du alle Fotos von dem Bühnenprospekt vernichtet, so wie ich es gesagt habe?«
»Natürlich. Ich habe sie alle vernichtet.«
Lena konnte es nicht fassen. »Wohin führen diese geografischen Koordinaten?«
»Ich weià es nicht. Ich weià nur, dass sie zu Ihnen führen.«
»Woher weiÃt du das?«
Wieder entstand eine lange Pause. Nun war Borimirs Tonfall nicht länger jammernd. »Ich habe selbst gehört, wie Kirill es Fräulein Nadja mitgeteilt hat.«
»Kann man sie nicht irgendwie aufhalten?«
»Sie sind bereits aufgebrochen, zusammen mit Taras und zwei weiteren Ukrainern. Aber da ist noch etwas â¦Â«
»Was?«
»Die haben gesagt, dass Sie etwas suchen ⦠aber am falschen Ort.«
Erneut ein heftiges Stechen in der Magengegend. Deshalb hatten ihre Grabungen zu nichts geführt. Aber woher wussten Kirill und Nadja, dass sie sich am falschen Ort befand? Es gab nur eine Antwort: Sie kannten den richtigen. Lena biss sich auf die Lippe. Sie kam nicht darauf, wo sie sich geirrt hatte. Sie umklammerte das Handy. Das Wut-Knäuel glitt langsam aus dem Dunkeln. Lena drängte es zurück in eine Ecke. Eins nach dem andern, sagte sie sich. Fürs Erste war sie zumindest im Vorteil: Die anderen kamen her, um sie zu überraschen, stattdessen würde sie ihnen eine Ãberraschung bereiten. Sie brauchte bloà zu warten und sie in einen Hinterhalt zu locken. Lediglich Nadja würde sie am Leben lassen. Aber auch das nur für kurze Zeit: so lange, bis sie ihr die genaue Lage des Buches der Blätter verraten hatte. Bei diesem Gedanken zerfiel das Knäuel, löste sich in nichts auf.
»Danke, Borimir, mein werter Freund«, begann sie erneut in so sanftem Ton wie zu Beginn des Telefonats. »Du wirst deinen Lohn bekommen ⦠wie du es verdienst. Aber du musst auf deinem Posten bleiben: Du musst es für mich tun.«
55
Im Flugzeug über dem Ãrmelkanal
Montag, 3. Januar, 8.14 Uhr
Am Horizont begann sich die Küste abzuzeichnen. Der Steward räumte das Tablett ab und lieà nur Nadjas Wodkaglas stehen.
Kirill hatte auf jede erdenkliche Art und Weise versucht, sie zu überreden, in Moskau zu bleiben, aber sie wollte nichts davon wissen. Diese Frau hatte ihre Mutter umgebracht und versucht, ihren Vater zu ermorden. Nadja wollte vor allem begreifen, weshalb, dann würde sie weitersehen.
Ein Gedanke beherrschte sie. Ein Gedanke, von dem sie nie geglaubt hätte, ihn jemals in Betracht zu ziehen, ein Gedanke, der allem widersprach, was sie bisher in ihrem Leben getan hatte: Rache. Rache für die Mutter, die ermordet worden war. Aber warum nur? Um den offiziellen Platz an der Seite von Gavril Derzhavin einzunehmen? Konnte diese Rolle denn wirklich ein Menschenleben wert sein? Sie selbst hatte diese Position mit ihrer Geburt innegehabt und war bei der erstbesten Gelegenheit geflüchtet.
Oder Rache für den Vater, der vielleicht dafür bezahlt hatte, dass er das Ansinnen der Geliebten zurückwies? Aber wenn es so war, was hatte dann dieser verfluchte Bühnenprospekt damit zu tun? Was brachte er Lena? Niemand konnte das wissen. Das Einzige, was sie wusste, war, dass es ihr um Lena ging und nicht um das, was Lena suchte.
Also Rache für sich selbst, denn was auch immer das Motiv gewesen war, Lena Leskov hatte ihre Familie zerstört. Allerdings noch nicht endgültig. Sie hatte die scheinbar harmlose und weit entfernt lebende Tochter Gavrils unterschätzt. Und dieser Fehler würde sie teuer zu stehen kommen.
Vielleicht war es auch Rache für Flavio, dem unbewussten Opfer all dieser Machenschaften: Wenn ihre Mutter noch leben würde, wäre sie in Anabah geblieben und hätte ihn vielleicht vor der Raserei dieses Paschtunen beschützen können.
Wie es ihren Patienten dort unten wohl ging � Und wie kamen die
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