Die Schwesternschaft
sie, und die Wärme dieses Händedrucks lieà sie zusammenfahren. Sie hatte das Gefühl, spüren zu können, wie das Blut in jedem Körperteil des Mannes pulsierte, wie es bis zur Handfläche und von dort wieder zurückfloss und allmählich kälter wurde. Sie lieà seine Hand los: »Victoria ⦠einfach nur Victoria.«
Er starrte einen Moment lang auf seine Hand, dann gab er Briana ein Zeichen, die sofort mit einem breiten Grinsen an ihren Tisch eilte.
»Was darfâs sein?«
»Ich hätte gern noch einen Cappuccino. Und du?«, fragte er, auf Victoria deutend, »was nimmst du?«
»Ich hab noch, danke.«
»Aber dieser freundliche junge Herr lädt dich zu einem weiteren Getränk ein â¦Â«, beharrte Briana.
Victoria gab nach. »Also gut, dann nehme ich auch einen Cappuccino.«
Briana entfernte sich.
»Sie ist eine Freundin von mir. Sie mischt sich ständig ein«, erklärte Victoria.
Phil lehnte sich zurück. »Was treibst du so im Leben?«
»Ich bin Schauspielerin«, antwortete sie kurzangebunden.
»Und ich Musiker. Aber irgendwann will ich Dirigent werden.«
Victoria wirkte interessiert. »Und wo studierst du?«
»Am Royal College of Music.«
Briana kam mit den Getränken zurück, stellte sie auf den Tisch und warf Victoria einen Blick zu, die ihr daraufhin ein Zeichen gab zu gehen. Die Freundin entfernte sich.
»Darf ich dir eine Frage stellen?«, begann Victoria, während sie an ihrem Cappuccino nippte.
Phil nickte.
»Was weiÃt du über Prosodie?«
Der junge Mann dachte einen Augenblick nach: »Alle Musik ist ihrem Ursprung nach stimmlich ⦠die Veränderungen der Stimme sind das physiologische Resultat sich verändernder Gefühle.«
»Kannst du mir ein Beispiel nennen?«
»Madrigale, mit ihren Diäresen, Synalöphen und metrischen Zäsuren.«
Victoria begriff nicht. Phil bemerkte es und begann zu erklären: »Nimm zum Beispiel Beethovens Neunte . Die Gefahr, einen Klangbrei aus Orchesterlärm und darin untergehenden Chorstimmen zu erzeugen, ist sehr hoch. Es ist allein dem äuÃerst sorgfältigen prosodischen Studium der Worte zu verdanken, dass alles funktioniert. Die Verse können sich meisterhaft in die Freiräume der Orchesterpartitur einfügen und so die Intensität der Melodie unglaublich verstärken.«
Victoria spürte, dass aus ihrem Inneren plötzlich machtvoll ein Klang aufstieg: »Ammmlmmm â¦Â«, und mit ihm eine glühende Wärme, die sich vom Zwerchfell her ausbreitete.
Phil schluckte und stellte seine Tasse ab. »WeiÃt du, dass ich Lust hätte, dich zu küssen?«, flüsterte er.
»Was?«
Er saà mit offenem Mund da, vollkommen verblüfft, dass er diesen Satz gesagt hatte. »Nein ⦠nein, das wollte ich gar nicht. Das heiÃt, doch ⦠aber â¦Â«, stammelte er verlegen.
Victoria war ebenso erstaunt. Was war geschehen? »Entschuldige bitte«, murmelte sie und erhob sich vom Sofa. »Ich muss nach Hause.«
Phil war ganz verzaubert, und nun da sie fortging, wurde er von einer unsagbaren Traurigkeit ergriffen.
»Kommst du wieder?«, fragte er sehnsüchtig.
41
Semei, StraÃen am Ufer des Irtysch
Samstag, 1. Januar, 17.09 Uhr
Semipalatinsk hatte seinen Namen geändert: So wie man alles aus der sowjetischen Vergangenheit vergessen wollte, so wurden auch die Namen erneuert. Semipalatinsk war in zu scheuÃlicher Erinnerung, als dass man es in den Geschichtsbüchern der neuen Generationen erwähnen konnte: Auf den Landkarten war es nun durch ein kürzeres und ermutigenderes Semei ersetzt worden. Ein ähnliches Schicksal wie Sankt Petersburg, das nahezu ein Jahrhundert Geschichte übersprungen hatte, als man von Leningrad wieder auf den alten Namen aus der Zeit der Zarenherrschaft zurückkam, eine Zeit, in der die Stadt gerne als eine Art Versailles des Nordens gesehen wurde.
An den breiten StraÃen von Semei reihten sich die Villen der Moskauer Funktionäre, die Hunderttausende von Toten auf dem Gewissen hatten. Am Ufer des quer durch die Stadt flieÃenden Irtysch sah man merkwürdige Ansammlungen ausgedienter Büsten von Marx, Lenin, Bulganin, Woroschilow und anderen.
Der SUV bog ab, bevor die StraÃe ins Stadtzentrum führte, und steuerte zurück in Richtung Steppe. Der Anblick lieà einen schlagartig wieder an den Tag
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