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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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danach denken. Als wären die Uhrzeiger der Geschichte auf die Zeit vor dem Fall der Mauer zurückgedreht worden, brennende Autoreifen am Straßenrand, Müllsäcke, die vom Wind hochgewirbelt wurden, Tiergerippe, an denen nicht einmal Würmer noch etwas zum Überleben fanden.
    Wenige Stunden von der Hauptstadt entfernt wirkte dieses Land wie das düstere Zeugnis all der Grausamkeiten, die die Kasachen unter der Sowjetherrschaft erlitten hatten. Kirill war sich sicher, dass dieser Touristenabstecher dazu dienen sollte, ihm zu zeigen, wie berechtigt der Hass gegen die Russen war.
    Irgendwann holte der Fahrer einen Geigerzähler aus dem Handschuhfach: Der Zeiger vibrierte und zeigte eine erhöhte Radioaktivität an. Dann kehrte er in den grünen Bereich zurück.
    Â» Der Wind …«, erklärte der Kasache.
    Kirill sah wortlos in den Rückspiegel.
    Â»Hier muss man sehr auf den Wind achten. Man darf sich nie vom Wind erfassen lassen.«
    Â»Wieso?«, fragte der Sibirier.
    Â»Der Staub wird aufgewirbelt und legt sich auf dich wie ein Geschwür. In dieser Gegend werden die Wirbelwinde Vurdalak genannt, weil sie dir, wenn sie dich erwischen, nach und nach das Leben aussaugen.«
    Kirill blieb stumm.
    Â»Weißt du, was ein Vurdalak ist?«, fragte ihn der Mann.
    Â»Ja, das weiß ich«, erwiderte er knapp.
    Sie hielten am Ufer des Flusses, der neben der Straße entlangfloss.
    Â»Wir sind da«, verkündete der Kasache und entriegelte die Wagentüren.
    Kirill sah sich um. Sie waren inmitten von Nichts. Der ideale Ort für eine Exekution. Aber merkwürdigerweise fühlte er sich vollkommen ruhig. Wenn sie ihn hätten kaltmachen wollen, hätten sie sich diese ganze lange Fahrt sparen können. Entschlossen griff er nach dem Koffer und stieg aus. Der SUV fuhr sofort weiter und ließ ihn allein zurück. Als er sah, dass das Auto eine Staubwolke aufwirbelte, hielt er sich sicherheitshalber ein Taschentuch vor Mund und Nase.
    Man hörte keinerlei Geräusche: weder Vögel noch Insekten noch irgendein anderes Tier. Kirill griff nach dem Handy, aber er merkte, dass es in der Gegend überhaupt keinen Empfang gab. Unmöglich, Parnok zu kontaktieren. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Er stellte den Koffer auf die Straße und setzte sich darauf.
    Nach einiger Zeit hörte er ein Brummen. Als ob ihm eine Hornisse vor dem Gesicht herumfliegen würde. Aber ringsum war nichts zu sehen. Er hob den Blick zum Himmel und sah in der Ferne einen kleinen schwarzen Punkt, der allmählich näher kam, ein Motordrachen.
    Kaum eine Minute später landete das Fahrzeug in etwa fünfzig Metern Entfernung. Kirill wartete und rührte sich nicht von der Stelle. Ein Mann stieg aus. Er trug einen giftgrünen Overall, den Kirill sofort erkannte: ein Strahlenschutzanzug des Militärs. Der Pilot schien unbewaffnet zu sein, aber er hatte eine große Sporttasche bei sich.
    Nach einigen Metern blieb er stehen und starrte ihn an wie ein Außerirdischer, der gerade sein Raumschiff verlassen hatte und sich nun fragte, ob der Mensch dort vor ihm eine Bedrohung darstellte oder nicht.
    Dann zog er die Gasmaske und die Kappe ab. Es war ein älterer Mann mit einem grau melierten Bart, der hier und dort auf seinem Kinn sprießte und große kahle Stellen frei ließ. Er trug dicke Brillengläser, und als er lächelte, bemerkte Kirill, dass ihm einige Zähne fehlten.
    Â»Wolltest du zu mir?«, fragte der Fremde mit starkem kasachischen Akzent.
    Â»Ehrlich gesagt nein. Ich war mit Gabit Suleimelov in Astana verabredet.«
    Â»Dann bist du ein wenig vom Weg abgekommen, mein Sohn«, sagte der Alte und lächelte erneut.
    Â»Sieht so aus.«
    Die beiden starrten sich ein paar Sekunden lang an, ohne einen Schritt aufeinander zuzugehen. Eine weitere Windhose hatte sich in der Ferne gebildet und kam auf sie zu.
    Â»Ich habe gehört«, ergriff der Mann erneut das Wort, »dass du Yuri Glinka suchst.«
    Â»Das stimmt. Ich suche ihn. Kannst du mir weiterhelfen?«
    Â»Nimm das!«, sagte der Alte und warf ihm die Tasche zu.
    Kirill fing sie auf.
    Â»Zieh an und komm mit«, befahl ihm der Mann und setzte die Gasmaske und die Kappe wieder auf.
    Kirill öffnete die Tasche, in der sich der gleiche Schutzanzug und eine Gasmaske befanden, wie der Fremde sie trug. Eine ähnliche Ausrüstung hatte er vor Jahren an einem anderen Ort

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