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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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getragen. Ohne lange nachzudenken, streifte er den Overall über, der, wie er feststellte, ziemlich eng saß. Dann nahm er den Koffer und packte ihn in die Tasche. Schließlich setzte er die Gasmaske auf und zog die Kappe darüber.
    Von Weitem hatte Kirill den Motordrachen für ein Relikt aus dem Krieg gehalten, aber als er näher trat, bemerkte er, dass das Aluminiumgestell ein Modell allerjüngsten Datums war, ebenso wie der brandneue Flügel.
    Der Alte hatte den Motor angelassen und gab ihm ein Zeichen, sich hinter ihn zu setzen. Kirill nahm auf dem unbequemen Kunststoff-Rücksitz Platz.
    Â»Es ist nur eine kurze Reise«, hörte er die Stimme über das Funkgerät. »Genieße sie!«
    Das Fluggerät fuhr dröhnend an, erhob sich wenige Sekunden später in die Luft und stieg rund hundert Meter auf. Nach etwa zwanzig Minuten erschien am Horizont ein großer zartblauer See. Kirill hatte davon gehört. Wegen seiner Farbe gehörte er sicherlich zu den schönsten Seen des Urals, aber sein Reiz war trügerisch, da er von einer radioaktiven Strahlung herrührte, die höher lag als in der Gegend um Tschernobyl.
    Â»Sieh nur, wie fantastisch«, schrie der Alte in das Mikrofon. Kirill antwortete nicht. »Wusstest du, dass er auf Landkarten keinen Namen hat? Für die Leute aus der Gegend ist er einfach der Atomsee .«
    Kirill kannte diese Geschichte durch einen kasachischen Kameraden, einen der Ersten, der das sinkende Schiff der Roten Armee verlassen hatte, als sich die Unabhängigkeit Kasachstans abzuzeichnen begann.
    Der Atomsee war eine Art Legende: ein künstliches Becken, das im Zuge eines irrsinnigen Projektes in den Siebzigerjahren entstanden war, ein vom damaligen Parteisekretär der KPdSU , Leonid Breschnew, unterzeichneter Plan des Zentralkomitees. Das Ziel war ebenso einfach wie idiotisch: Man wollte den Lauf der Flüsse des Urals mittels atomarer Sprengungen umleiten. Das Ergebnis bekam Kirill jetzt zu Gesicht: ein toter See. Nicht einmal die kleinste Alge konnte bei einer Strahlung von hundert Milliröntgen pro Stunde überleben − eine Dosis, die mehrere hundert Mal höher lag, als jeder lebende Organismus ertragen konnte.
    Das Unglaubliche war, dass unter ihnen, am Westufer, plötzlich ein Militärlager mit mindestens dreißig großen Zelten auftauchte. Rund eine Meile davon entfernt stand ein Transporthubschrauber auf einer kreisförmigen Fläche aus festgestampfter Erde.
    Der Motordrachen landete auf einer Piste ganz in der Nähe. Ringsum waren Dutzende von Leuten in giftgrünen Anzügen zu sehen.
    Â»Da wären wir also daheim«, hörte Kirill die Stimme durch die Kopfhörer.
    Die beiden Männer stiegen aus, und der Pilot gab dem Sibirier ein Zeichen, ihm zum Lager zu folgen.
    Unterwegs verbeugten sich alle respektvoll, ein Zeichen dafür, dass der Alte eine wichtige Persönlichkeit darstellte.
    Â»Bist du Yuri Glinka?«, fragte ihn Kirill. Es war merkwürdig, sich durch diese Masken anzuschauen, aber er spürte, dass ihm der Alte zulächelte.
    Â»Weshalb bist du hergekommen? Ich mache keine Geschäfte mehr mit Russen.«
    Kirill sah sich um und bemerkte einen großen metallenen Kegel auf einem Schubkarren. Er sah aus wie ein Raketensprengkopf: schlammverkrustet, aber vollständig. »Mit wem machst du dann solche Geschäfte?«, fragte er und deutete auf die Geschossspitze.
    Der Alte lachte in das Mikrofon, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und steuerte auf eines der Zelte zu. »Weißt du, wie viele Sprengkörper hier abgeworfen worden sind?«
    Kirill folgte ihm: »Hunderte?«, überlegte er.
    Â»Nach offiziellen Angaben sind es vierhundertfünfzig. Aber in Wahrheit sind es Tausende. Viele davon sind nicht explodiert. Zu ausgeklügelt, um zu detonieren.«
    Â»Und ihr bergt sie also.«
    Der Alte legte einen behandschuhten Finger an die Maske. »Pst, nicht weitersagen. Hier denken alle, sie würden Stör angeln.« Dann fing er schallend an zu lachen.
    Wenn das tatsächlich der Bühnenbildner Yuri Glinka war, dann war er jedenfalls ganz anders, als Kirill ihn sich vorgestellt hatte.
    Als sie vor dem größten Zelt angekommen waren, bat der Mann ihn hinein.
    Das Zeltinnere war die Ausgeburt an Kitsch. Dem Eingang gegenüber stand ein riesiger goldfarbener Schreibtisch, auf dem frische Früchte lagen. Sie waren mit Sicherheit nicht

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