Die Schwingen des Todes
erfreut, aber er hat es eingesehen. Ein paar Wochen später kam er wieder zu mir. Er sagte, er wisse, dass ich ihm nichts mehr leihen könne, aber was wäre mit der schul? Ob er nicht was vom gemach borgen könnte?«
»Das ist der Wohltätigkeitsfonds, oder?«
»Richtig. Ich sah ihn aber nicht als Wohlfahrtsfall an. Außerdem war es ein schrecklicher Interessenkonflikt - meinen Schwager auszulösen. Also antwortete ich ihm, dass es nicht möglich sei. Er war beleidigt. Eine Weile haben wir nicht miteinander geredet, bis wir vor sechs Monaten unsere Differenzen beilegen konnten. Er hat sich entschuldigt und gesagt, damals hätten ihm die Gläubiger im Nacken gesessen und das Geschäft wäre schlecht gegangen. Er sei verzweifelt gewesen, aber dann hätten sich die Dinge gewandelt. Das Geschäft laufe langsam besser. Es war während des Elul, also dachte ich, er will seine Pflicht erfüllen.«
Elul ist der Monat vor dem jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schanah. Diese dreißig Tage dienen als Bedenkzeit für jene, die ihre Sünden des vergangenen Jahres bereuen müssen - was nach jüdischem Verständnis für jeden gilt. Der Elul beginnt meist Anfang September - das war also vor etwa sechs Monaten.
»Und weiter?«, fragte Decker.
»Das ist alles. Wir haben uns versöhnt. Besonders nach dem 11. September erschienen unsere Differenzen absolut kindisch. Er hat uns zum Essen eingeladen. Shayndie hat uns ein paar Wochenenden besucht. Alles schien in Ordnung zu sein.. bis zu dieser Katastrophe.«
»Was hat Chaim unternommen, um das Geschäft anzukurbeln?«
»Ich hatte den Eindruck, er hätte gar nichts gemacht, und die Lage wäre einfach von selbst besser geworden.«
»Er hat also keine Details erwähnt?«
»Nein.«
»Und Ephraim? Hat er eine Erklärung für den Aufschwung gehabt?«
»Nein, er hat mir nichts erzählt. Ich hatte immer das Gefühl, Ephraim brauchte all seine Kraft, nur um einfach Ephraim zu sein. Er hatte seine eigenen Probleme.«
»Ich denke jetzt mal laut nach«, sagte Decker. »Nimm's mir nicht übel.«
»Nur zu.«
»Chaim nimmt einen Kredit bei der Bank auf, um das Geschäft zu vergrößern. Er hat hohe Schulden. Die Rezession schlägt zu, und alles geht bergab. Er borgt, wo er kann - bei Verwandten, vielleicht bei Freunden -, um durchzukommen und der Bank das Geld zurückzuzahlen. Aber es reicht nicht. Er gerät so sehr in Panik, dass er dich bittet, etwas Illegales zu tun..«
»Ich weiß nicht, ob er es für illegal hielt.«
»Man kann es zumindest als zweifelhaft bezeichnen, Jonathan. Sogar nachdem du's ihm erklärt hast, ist er böse und redet nicht mehr mit dir. Das hast du selbst gesagt, richtig?«
Jonathan schwieg und konzentrierte sich aufs Fahren.
»Dann geht es plötzlich bergauf«, fuhr Decker fort.
»Ich weiß nicht, ob es so plötzlich kam.«
»Das Geschäft lief langsam besser, hast du gesagt. Bleiben wir mal kurz dabei. Wenn es langsam besser wurde, heißt das, dass nicht plötzlich viel Geld reingekommen ist, sondern gerade nur so viel, dass er keine Angst mehr vor der Bank haben musste. So etwas ist ein langfristiger Vorgang.«
»Ich kann dir nicht folgen«, sagte Jonathan.
»Ich überlege selbst erst beim Reden«, erklärte Decker. »Okay. Es gibt also eine langsame Besserung. Ich hab aber erfahren, dass Ephraim wegen Chaims Geschäftspraktiken aufgebracht war. Also kannst du dir vorstellen, was ich denke, Jon. Ich denke, Chaim hat sich nicht darauf verlassen, dass sein Geschäft langsam besser läuft und ihn rettet. Vielleicht ist er plötzlich zu Geld gekommen - womöglich auf illegale Art. Sogar sehr wahrscheinlich auf illegale Art - oder weißt du von einer glücklichen Erbschaft?«
»Du machst ziemliche Sprünge, Akiva.«
»Ja, das ist das Beste an meinem Beruf. Das Schwierige ist, Beweise für meine Ideen zu finden. Lass es mich noch ein bisschen weiter ausspinnen. Am einfachsten käme Chaim durch einen Versicherungsbetrug illegal an Geld. Allerdings ziehen sich solche Ansprüche immer hin. Der Aufschwung kam aber ziemlich abrupt, stimmt's?«
»Ich weiß nicht, wie plötzlich. «
»Na, wie viele Monate waren es von dem Zeitpunkt, als er das Geld von der Synagoge borgen wollte, bis zu eurer Versöhnung?«
Jonathan klopfte aufs Lenkrad. »Ungefähr drei Monate.«
»Dann muss es ein Wahnsinnsaufschwung gewesen sein, Jon. Vor Weihnachten vielleicht. Aber wir reden hier von einer Spanne von Juni bis September - das ist traditionell eine flaue Zeit für den
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